Evidence-based medicine (EBM) bedeutet, dass sich die medizinischen Handlungsweisen (und dabei besonders die Therapie) grundsätzlich auf möglichst gut gesicherte Ergebnisse der medizinischen Forschung gründen sollen. EBM wird beschrieben als gewissenhafter, ausdrücklicher und vernünftiger Gebrauch der gegenwärtig besten externen, wissenschaftlichen "Evidenz" für Entscheidungen in der Patientenversorgung. Die Anwendung von Prinzipien der EBM ist also die Verbindung individueller klinischer Erfahrung mit Erkenntnissen aus der systematischen Forschung. In diesem Zusammenhang bedeutet das englische Wort evidence Beweis bzw. Beweisbarkeit. Im Deutschen versteht man unter Evidenz aber Augenscheinlichkeit. Dennoch wird auch im Deutschen der Begriff evidenzbasierte Medizin (EBM) im Sinne von beweisgestützter Medizin verwendet.
Die zugrunde liegenden Konzepte für eine systematische Entscheidungsunterstützung im klinischen Alltag wurden seit ca. 1980 von einer Arbeitsgruppe an der McMaster-Universität in Hamilton (Kanada) entwickelt und setzen sich durch gezielte "Aufklärung" mehr und mehr durch. Bahnbrechend war besonders das Buch von Sackett, das auch in einer deutschen Ausgabe vorliegt.
Die Grundidee ist, dass der Arzt sein Wissen aus seiner Ausbildung und seinem Erfahrungsschatz mit externen Informationen aus der aktuellen medizinischen Forschung ergänzt (siehe auch Diagnostisch-Therapeutischer Zyklus), bevor er Entscheidungen zur Patientenversorgung trifft. Das gilt natürlich nicht für alle Entscheidungen, sondern nur für schwierige und (für den Arzt) selten auftretende Probleme. Die Informationen, die er sich zusätzlich beschafft, sollten möglichst gut wissenschaftlich belegt oder bewiesen sein.
Das Vorgehen bei der Umsetzung des Prinzips der EBM gliedert sich in vier Schritte:
Die Fragen zur Diagnostik, Therapie, Prognose oder Prävention müssen so konkret formuliert werden, dass mit einer anschließenden Suche relevante Erkenntnisse gefunden werden können, aus denen sich die Fragen beantworten lassen.
Beispiele: Hat die zusätzliche Gabe von Thrombozytenaggregationshemmern einen Effekt
bei der Antikoagulationstherapie nach Herzklappenersatz?
Welchen Einfluss hat eine frühzeitige (innerhalb von 8 Stunden nach OP) Extubation bei herzchirurgischen Patienten auf die
Mortalität?
Verhindern Antikoagulantien Schlaganfälle bei Personen mit Vorhofflimmern?
Das letzte Beispiel ist nicht präzise genug formuliert, denn folgende Fragen bleiben offen:
Vorhofflimmern rheumatischer oder nicht-rheumatischer Ursache? Ischämischer und/oder hämorrhagischer Insult?
Gehört ASS zu den Antikoagulantien? Sollen Studien mit Risikopatienten (z.B. vorangegangene TIA) einbezogen werden?
Daher sollte die Problemstellung beispielsweise folgendermaßen präzisiert werden:
Wie sind Wirksamkeit und Sicherheit einer Antikoagulationstherapie vom Marcumar-Typ in der Sekundärprävention
(Vermeidung eines Insults bei vorangegangener TIA) von Patienten mit nicht-rheumatisch bedingtem Vorhofflimmern zu bewerten?
Diese Formulierung verspricht eine effektive Suche, weil mit den sich daraus ergebenden Suchbegriffen direkt auf
passende Informationen fokussiert werden kann.
Zunächst wird festgelegt, wo gesucht werden soll. Dabei muss man sich an den vorhandenen Ressourcen orientieren. Als Informationsquellen kommen in Frage Bücher, Wissenschaftliche Zeitschriften, Internet (WWW), MEDLINE (PubMed), Leitlinien, spezielle Literatur-Datenbanken wie z.B. die Cochrane Library, Beratung durch einen Experten oder das persönliche Gespräch mit Kollegen.
Das Vorgehen bei der Suche hängt von der Art der Informationsquelle ab. Während man bei einem Buch im Schlagwortregister (Index) nach einem Begriff aus der Problemdefinition sucht, erfolgt die Suche in einer Literaturdatenbank (z.B. MEDLINE) durch die Formulierung einer Suchanfrage durch "geschickte" Kombination von mehreren Suchbegriffen (Schlüsselwörtern), die sich sich aus der Problemdefinition ergeben. Die Suchbegriffe müssen fast immer ins Englische übersetzt werden, weil die wesentlichen Literatur-Datenbanken englischsprachig sind. Informationen über Aufbau und Nutzung von MEDLINE finden Sie in diesem Lernprogramm oder direkt bei PubMed.
Einige Hinweise für die Suche in der Literatur-Datenbank MEDLINE:
Die nachfolgende komplexe Suchanfrage, die zur Suche nach Erkenntnissen zu Beantwortung der ersten
Beispielfrage in MEDLINE durchgeführt wurde, veranschaulicht, dass für eine erfolgreiche Suche
sowohl medizinisches Fachwissen als auch methodisches Wissen über die Literatur-Datenbank erforderlich sind.
#1 HEART-VALVE-PROSTHESIS*:ME
#2 HEART-VALVE-PROSTHESIS-IMPLANTATION*:ME
#3 (VALVE near PROSTHE*)
#4 (VALVE near BIOPROSTHE*)
#5 (ARTIFICIAL near VALVE)
#6 (VALVE near REPLACEMENT*)
#7 (((((#1 or #2) or #3) or #4) or #5) or #6)
#8 ANTICOAGULANTS*:ME
#9 ANTICOAGULANT*
#10 (VITAMIN near ANTAGONIST*)
#11 ANTIVITAMIN*
#12 WARFARIN
#13 COUMADIN
#14 (((((#8 or #9) or #10) or #11) or #12) or #13)
#15 PLATELET-AGGREGATION-INHIBITORS*:ME
#16 ANTIPLATELET*
#17 ANTITHROMBOCYTIC*
#18 (PLATELET* near INHIBITOR*)
#19 (PLATELET* near ANTAGONIST*)
#20 ANTIAGGREGANT*
#21 ASPIRIN
#22 DIPYRIDAMOLE
#23 TICLOPIDINE
#24 ((((((((#15 or #16) or #17) or #18) or #19) or #20) or #21) or #22) or #23)
#25 ((#7 and #14) and #24)
Je nach Informationsquelle ist die gefundene Information unterschiedlich "verpackt". Beispielsweise findet man in einem Buch ein Kapitel mit den gesuchten Informationen. Fundstellen im Internet sind häufig unstrukturiert oder enthalten weitere Verweise (Links). Im Folgenden wird vorausgesetzt, dass die Fundstellen aus einer Literatur-Datenbank stammen, d.h. dass sie Verweise auf Artikel in wissenschaftlichen medizinischen Zeitschriften (Journals) darstellen.
Um zu beurteilen, ob mit der gefundenen Information die Fragen aus der Problemstellung beantwortet werden können, d.h. ob sie relevant ist, liest man zunächst den Verweis. Die Verweise enthalten neben bibliographischen Angaben heute fast alle eine Kurzfassung des Artikels (Abstract), in dem die Studie beschrieben und die wichtigsten Ergebnisse zusammengefasst werden. Daraus kann man meistens schon erkennen, ob der Artikel grundsätzlich relevant ist. Für weitere Informationen muss man den Artikel vollständig lesen, d.h. man muss sich die Langfassung besorgen. In den Universitätsklinika (z.B. im Universitätsklinikum des Saarlandes) stehen viele Zeitschriften sowohl in gedruckter Form als auch im Internet (online) zur Verfügung, weil diese Zeitschriften abonniert werden. In anderen Arbeitsumgebungen (z.B. als niedergelassener Arzt) kann es schwierig sein, sich die vollständigen Artikel zu besorgen. Beispielsweise liefert die Deutsche Zentralbibliothek für Medizin Literatur gegen Bezahlung.
Um die Evidenz der gefundenen Information zu beurteilen, müssen Abstract und/oder kompletter Artikel aufmerksam gelesen werden. Dabei ist u.a. auf folgende inhaltliche Aspekte zu achten:
Unter primärer Forschung versteht man die Planung, Durchführung und Auswertung von Studien sowie die Publikation der Ergebnisse. Die wichtigsten Studientypen sind randomisierte kontrollierte Studie, nicht-randomisierte kontrollierte Studie, Kohortenstudie, Fall-Kontrollstudie, Querschnittstudie. Sekundäre Forschung bedeutet die Zusammenfassung der Ergebnisse mehrerer Studien zu einem bestimmten medizinischen Thema in Form einer Übersichtsarbeit (einfacher und systematischer Review bzw. Meta-Analyse) oder in Form von Leitlinien. Damit findet i.a. eine Informationsreduktion statt, die Entscheidungen erleichtern soll.
Die Evidenz der Ergebnisse primärer Forschung hängt wesentlich vom Studientyp ab. Randomisierte, kontrollierte Studien gelten als Gold-Standard, d.h. als die Studien, die die zuverlässigsten Ergebnisse liefern, weil durch die Randomisierung die Gruppen weitgehend strukturgleich sind und damit ein möglicher Unterschied in der Zielgröße (z.B. Behandlungseffekt) sicher auf die unterschiedliche Behandlung der Gruppen zurückgeführt werden kann. RCTs werden überwiegend in der Therapieforschung durchgeführt.
In der Ursachen- und Prognoseforschung sowie zur Risikoanalyse werden Kohorten- und Fall-Kontrollstudien durchgeführt. Dabei sind die Ergebnisse von Kohortenstudien zuverlässiger als die von Fall-Kontrollstudien (siehe Fehlerquellen). Querschnittstudien sind angebracht, wenn es um die Güte diagnostischer Verfahren oder um Screeningverfahren geht.
Mit der folgenden Checkliste zur Methodik der Studie soll das kritische Lesen einer Publikation erleichtert werden.
Die Erkenntnis muss also auf transparente und nachvollziehbare Weise gewonnen worden sein, auch neueste Ergebnisse miteinbeziehen und in klarer Form dargestellt sein. Der Begutachtung der Beiträge in den wichtigsten medizinischen Fachzeitschriften liegen entsprechende Richtlinien zugrunde (peer-review-Verfahren).
Ein Review ist die zusammenfassende Interpretation von Forschungsergebnissen (i.a. aus mehreren Studien) zu einem bestimmten medizinischen Thema. Ähnlich wie bei der Durchführung einer Studie muss man bei der Erstellung eines Review gewisse "Spielregeln" einhalten, um Verzerrungen zu vermeiden. Gründe für einen "bias by publication" können sein, dass nicht alle Informationsquellen ausgeschöpft oder nicht alle relevanten Studien einbezogen oder fast ausschließlich Studien mit signifikantem Ergebnis, d.h. in denen die Nullhypothese abgelehnt wird, veröffentlicht werden.
Um Verzerrungen möglichst gering zu halten, wurden (vergleichbar dem Studienplan oder Prüfplan für eine einzelne Studie) folgende methodische Regeln formuliert. Wenn diese Regeln bei der Erstellung eines Reviews sorgfältig eingehalten werden, spricht man von einem systematischen Review.
Neben MEDLINE müssen als Informationsquellen für einen Review auch andere medizinische Literatur-Datenbanken, z.B. AIDSLINE, EMBASE, National Research Register, HEALTH, Web of Science durchsucht werden. Teil der Cochrane-Library ist die Datenbank CENTRAL (genauer: Cochrane Central Register of Controlled Trials), in der hochwertige Studien gesammelt werden, die als Basis für systematische Reviews dienen können. Außerdem sollte man auch nicht englisch-sprachige Literatur und sog. "graue Literatur", d.h. Dissertationen, Kongressberichte, Zeitschriften ohne peer-review in Betracht ziehen. Weitere Informationen kann man über die in den Publikationen vorhandenen Literaturlisten (Zitate der Primärquellen) erhalten. Manchmal muss man Kontakt mit Experten des medizinischen Fachgebiets oder mit den Autoren aufnehmen.
Werden die Ergebnisse mehrerer Studien zusammenfassend quantitativ mit statistischen Methoden analysiert, so spricht man von einer Meta-Analyse. Eine Meta-Analyse ist also ein eigener "numerischer" Teil eines Reviews, d.h. es gibt auch Reviews ohne Meta-Analyse. Zur Präzisierung die englische Definition aus MEDLINE: "Meta-Analysis: Works consisting of studies using a quantitative method of combining the results of independent studies (usually drawn from the published literature) and synthesizing summaries and conclusions which may be used to evaluate therapeutic effectiveness, plan new studies, etc. It is often an overview of clinical trials. ..." Obwohl auch in dieser Definition die Betonung auf dem quantitativen Vergleich liegt, wird der Begriff der Meta-Analyse oft auch synonym mit Review verwendet.
Ein systematischer Review hat folgende Vorteile:
Diese Vorteile führen dazu, dass systematische Reviews als die Informationsquelle mit der höchsten Evidenz angesehen werden. Das Deutsche Cochrane Zentrum hat abhängig von der Art der Studien oder der Informationsquellen sechs Evidenzstufen (Evidenzklassen, levels of evidence) definiert, d.h. die folgende Einteilung bezieht sich auf die grundsätzliche Eignung eines Studiendesigns, durch Vermeidung systematischer Fehler (Bias) zu validen Ergebnissen zu kommen. Die hier gezeigte Klassifikation ist an Studien zu Therapie und/oder Präventation orientiert und nicht ohne weiteres auf andere Fragestellungen, z.B. im Bereich der Diagnoseforschung oder Risikoanalyse, zu übertragen, weil dort andere Studientypen durchgeführt werden. Bei epidemiologischen Fragestellungen haben systematische Reviews von Kohortenstudien den höchsten Evidenzgrad, gefolgt von Kohortenstudien, Fall-Kontrollstudien und anderen Beobachtungsstudien.
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Evidenz-Typ |
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Wenigstens ein systematischer Review auf der Basis methodisch hochwertiger kontrollierter, randomisierter Studien (randomized clinical trials, RCTs) |
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Wenigstens ein ausreichend großer, methodisch hochwertiger RCT |
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Wenigstens eine hochwertige Studie ohne Randomisierung |
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Wenigstens eine hochwertige Studie eines anderen Typs quasi-experimenteller Studien |
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Mehr als eine methodisch hochwertige nichtexperimentelle Studie |
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Meinungen und Überzeugungen von angesehenen Autoritäten (aus klinischer Erfahrung); Expertenkommissionen; beschreibende Studien |
Reviews findet man z.B. in MEDLINE, wenn man mit "pt=meta-analysis", "pt=review" oder "pt=review, tutorial" (pt = publication-type) sucht, oder in speziellen Review-Datenbanken. Die wichtigste Datenbank für Reviews von höchster Qualität ist die Cochrane Library. Sie enthält die Arbeitsergebnisse der Cochrane Collaboration, einem freiwilligen Zusammenschluss von Ärzten und anderen in der Gesundheitsversorgung tätigen Personen, die sich eine weitere Verbreitung von EBM zum Ziel gesetzt haben. Sie ist benannt nach dem britischen Arzt Archie Cochrane, der in den 1980er Jahren als Erster die Methodik medizinischer Entscheidungen kritisch analysiert hat. Die Mitglieder sind in Collaborative Review Groups (CRGs) organisiert, entsprechend den verschiedenen medizinischen Fachgebieten (z.B. Cochrane heart group). Sie kommunizieren überwiegend virtuell über das Internet. Die Prinzipien der Arbeitsweise der Collaboration und die Methodik zum Erstellen systematischer Reviews sind genau definiert.
Als Beispiel sind hier der Abstract und die Meta-Analyse eines systematischen Reviews aus der Cochrane Library über Maßnahmen bei Übelkeit und Erbrechen in der Frühschwangerschaft aufgeführt.
Interventions for nausea and vomiting in early pregnancy
Jewell D, Young G
Date of most recent substantive amendment: 03 August 2003
This review should be cited as: Jewell D, Young G. Interventions for nausea and vomiting in
early pregnancy (Cochrane Review). In: The Cochrane Library, Issue 2, 2004. Chichester, UK: John Wiley & Sons, Ltd.
ABSTRACT Background Nausea and vomiting are the most common symptoms experienced in early pregnancy, with nausea affecting between 70 and 85% of women. About half of pregnant women experience vomiting. Objectives To assess the effects of different methods of treating nausea and vomiting in early pregnancy. Search Strategy We searched the Cochrane Pregnancy and Childbirth Group trials register (December 2002) and the Cochrane Central Register of Controlled Trials (The Cochrane Library, Issue 4, 2002). Selection Criteria Randomised trials of any treatment for nausea and/or vomiting in early pregnancy. Data collection and analysis Two reviewers assessed the trial quality and extracted the data independently. Main Results Twenty-eight trials met the inclusion criteria. For milder degrees of nausea and vomiting, 21 trials were included. These trials were of variable quality. Nausea treatments were: different antihistamine medications, vitamin B6 (pyridoxine), the combination tablet Debendox (Bendectin), P6 acupressure and ginger. For hyperemesis gravidarum, seven trials were identified testing treatments with oral ginger root extract, oral or injected corticosteroids or injected adrenocorticotropic hormone (ACTH), intravenous diazepam and acupuncture. Based on 12 trials, there was an overall reduction in nausea from anti-emetic medication (odds ratio 0.16, 95% confidence interval 0.08 to 0.33). Reviewers' conclusions Anti-emetic medication appears to reduce the frequency of nausea in early pregnancy. There is some evidence of adverse effects, but there is very little information on effects on fetal outcomes from randomised controlled trials. Of newer treatments, pyridoxine (vitamin B6) appears to be more effective in reducing the severity of nausea. The results from trials of P6 acupressure are equivocal. No trials of treatments for hyperemesis gravidarum show any evidence of benefit. Evidence from observational studies suggests no evidence of teratogenicity from any of these treatments. This review should be cited as: Jewell D, Young G Interventions for nausea and vomiting in early pregnancy (Cochrane Review). In: The Cochrane Library, Issue 2, 2004. Chichester, UK: John Wiley & Sons, Ltd. |
Die Ergebnisse der Meta-Analyse werden als sog. Forest-Plot grafisch dargestellt. Für eine nominale Zielgröße (z.B. Schwindel ja oder nein) werden die odds ratios mit ihren Konfidenzintervallen jeweils für die einbezogenen Studien und den Gesamteffekt angegeben.
Das Prinzip der EBM wurde ursprünglich entwickelt, um zu fundierten patientenbezogenen Entscheidungen zu gelangen. Mittlerweile wird gefordert, dass nicht nur patientenbezogne Entscheidungen sondern alle Entscheidungen im Gesundheitswesen evidenzbasiert sein sollen, z.B. die Entscheidung für die Einführung eines flächendeckenden Mammascreenings.
Für patientenbezogene Entscheidungen im Bereich von Diagnostik, Therapie, Prognose oder Prävention lassen sich die gefundenen Erkenntnisse kaum 1 zu 1 umsetzen. Vielmehr muss zunächst die klinische Relevanz des beschriebenen Effekts geprüft werden. Dabei kann die Interpretation der Number needed to treat (NNT) nützlich sein: Eine kleine NNT spricht für einen starken Effekt, eine große NNT dagegen. Danach ist zu beurteilen, ob der Patient mit den Studienteilnehmern vergleichbar ist, d.h. ob die Ein- und Ausschlusskriterien auf ihn zutreffen. Ferner sollte man einen möglichen individuellen Nutzen der Therapie abschätzen und sich darüber klar werden, ob die Therapie dem Zustand, den Wertvorstellungen und Präferenzen des Patienten gerecht wird. Auch ökonomische Aspekte können eine Rolle spielen.
Unter einer Leitlinie wird in der Medizin eine systematisch entwickelte Entscheidungshilfe über die angemessene ärztliche Vorgehensweise bei gesundheitlichen Problemen im Rahmen der Medizinischen Versorgung verstanden. Dabei handelt es sich um eine Orientierungshilfe, von der unter Berücksichtigung des individuellen Zustands des Patienten und der verfügbaren Ressourcen abgewichen werden kann oder sogar muss. Leitlinien sind keine Richtlinien! Richtlinien sind Handlungsregeln einer gesetzlich, berufsrechtlich, standesrechtlich oder satzungsrechtlich legitimierten Institution, die für den Rechtsraum dieser Institution verbindlich sind und deren Nichtbeachtung definierte Sanktionen nach sich ziehen kann. Leitlinien sollen das aktuelle Wissen zu einem medizinischen Thema so wiedergeben, dass es als Leitfaden für das Handeln des Arztes dienen kann. Damit ist klar, dass Leitlinien regelmäßig aktualisiert werden müssen.
Die Formulierung von Leitlinien verfolgt mehrere Ziele:
Leitlinien müssen also evidenzbasiert sein. Zu möglichst allen Empfehlungen werden daher Literaturangaben mit den zugehörigen Evidenzstufen gemacht, aus denen sich die Empfehlungen begründen lassen. Der Evidenzgrad der zitierten Publikationen wird üblicherweise in einen Empfehlungsgrad (grade of recommendation) umgesetzt. Für die Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) gelten folgende Empfehlungsgrade:
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Bedingungen |
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Positive oder negative Aussage (z.B. zur Wirksamkeit) wird gestützt durch mehrere adäquate, valide klinische Studien (z.B. randomisierte klinische Studie) bzw. durch einen oder mehrere systematische Reviews. |
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Positive oder negative Aussage wird gestützt durch zumindest eine adäquate, valide klinische Studie (z.B. randomisierte klinische Studie). |
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Es liegen keine sicheren Studienergebnisse vor, die eine günstige oder schädigende Wirkung belegen. Dies kann begründet sein durch das Fehlen adäquater Studien, aber auch durch das Vorliegen mehrerer, aber widersprüchlicher Studienergebnisse. |
Leitlinien für einzelne Krankheitsbilder haben meistens eine einheitliche Gliederung:
Der klinische Algorithmus stellt das leitliniengerechte Vorgehen in Form eines Flussdiagramms dar. Dabei handelt es
sich um eine Grafik, in der die Verzweigungen, die sich aufgrund von Entscheidungen ergeben, als Rauten und die Aktionen
als Rechtecke dargestellt und dem Ablauf entsprechend miteinander verbunden sind.
In den Verfahren zur Konsensusbildung wird beschrieben, wer an der Erstellung der Leitlinie
beteiligt war und wie die Aussagen der Leitlinie zustande gekommen sind, d.h. wie sich die Beteiligten abgestimmt haben, um
einen Konsens zu erreichen. Je nachdem wie formal dieser Prozess abgelaufen ist, unterscheidet man drei
Klassen (S1, S2, S3).
Im folgenden Ausschnitt aus der Leitlinie "Diagnostik und Therapie des Karpaltunnelsyndroms (KTS)" der Deutschen Gesellschaft
für Neurochirurgie kann man die unterschiedlichen Empfehlungsgrade für die Maßnahmen der konservativen Behandlung erkennen.
In den eckigen Klammern ist die Evidenzstufe der zitierten Literatur angegeben.
Anschließend ist der klinische Algorithmus der gleichen Leitlinie abgebildet.
A |
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B |
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A |
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Als Nachteile von Leitlinien werden diskutiert, dass ihre Anwendung zu einer "Durchschnittsmedizin" führt, Innovationen verhindert und lokale Bedürfnisse nicht ausreichend berücksichtigt werden. In juristischen Auseinandersetzungen und in der Gesundheitspolitik werden manchmal Leitlinien wie Richtlinien gehandhabt, d.h. die Entscheidungsfreiheit des Arztes kann dadurch eingeschränkt werden, weil grundsätzlich erwartet wird, dass er richtliniengerecht handelt. Damit werden Leitlinien zu einem Instrument der internen und externen Kontrolle. Da Leitlinien im Internet frei zugänglich sind, können sich auch Patienten über das "optimale" Vorgehen informieren. Dieses Wissen kann Einfluss auf das Arzt-Patienten-Verhältnis haben.
Folgende Checkliste soll dabei helfen, die Qualität einer Leitlinie zu beurteilen:
Die aktuellen Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) finden Sie hier.
Zum Abschluss des Kapitels sollen noch Probleme der EBM genannt werden. Die Suche kann durch die Verfügbarkeit der Informationsquellen eingeschränkt sein. Beispielsweise ist der kostenfreie Zugriff auf die Langfassungen der Artikel nicht für alle Interessenten möglich. Häufig werden keine relevanten Ergebnisse gefunden oder nur Ergebnisse mit zweifelhafter Evidenz. Das liegt daran, dass für viele Fragestellungen noch gar keine Studien durchgeführt wurden oder nur Studien mit methodischen Fehlern vorliegen. In diesen Fällen gibt es auch keine (systematischen) Reviews, weil die Basis dafür fehlt oder weil sich niemand findet, der einen Review verfasst. Auch wenn die Suche erfolgreich war, kann - z.B. in Abhängigkeit des Zustandes des Patienten - die Übertragbarkeit der Ergebnisse fraglich oder unmöglich sein. Man sollte sich auch immer wieder klar machen, dass die Anwendung des EBM-Prinzips keinesfalls die Verantwortung des Arztes für seine Entscheidungen aufhebt.
Für weitere Informationen zum Thema EBM siehe Literaturverzeichnis und
online im Centre for Evidence-based Medicine der Universität Oxford.