Gegen die Legende vom emotional gesteuerten Mittelalter-Menschen

Gegen die Legende vom emotional gesteuerten Mittelalter-Menschen


Professor Peter Schuster untersucht die Gefühlswelt der Menschen vor 500 Jahren – Emotionen vor allem als Mittel der Politik überliefert

Im finsteren Mittelalter dämmerten die Menschen dumpf und tiergleich vor sich hin, so das Vorurteil. Dass die Menschen Emotionen jedoch sehr zielgerichtet einsetzten, hat Historiker Peter Schuster herausgefunden. Er sagt: So anders als wir tickten die Menschen damals gar nicht.
 
Von Thorsten Mohr

König Heinrich IV. war traurig, als er 1075 gegen die Sachsen kämpfte. Aber nicht etwa, weil er den Kampf verloren hatte. Er war auch nicht bestürzt darüber, dass nach einer Schlacht so viele Krieger ihr Leben ließen. Es lagen die falschen Toten auf dem Schlachtfeld. Viel zu wenige Stammesführer der Sachsen, gegen die er zu Felde zog, starben. Zwar verloren die Sachsen viel mehr Männer als Heinrich, aber im Gegensatz zu seiner Armee kamen fast alle sächsischen Adeligen mit dem Leben davon. Die Sieger der Schlacht sind also schlechter weggekommen als die besiegten Sachsen. Das machte den König so traurig. Seine Heerführer vergossen sogar Tränen darüber, weil sie den Sieg als sinnlos erachteten.

Heutige Herrscher müssen da besonnener sein. „Wenn Angela Merkel eine Trauerrede auf gefallene Soldaten hält, legt sie zwar eine Leichenbittermiene auf. Bräche sie aber schluchzend und tränenüberströmt über dem Sarg zusammen, wäre das aus unserer Sicht übertrieben“, sagt Peter Schuster. Der Professor für spätmittelalterliche Geschichte erforscht unter anderem die Emotionen unserer Vorfahren an der Schwelle zur Neuzeit.

Die waren grundsätzlich aber gar nicht so verschieden von unseren. Öffentliche Trauer- und Zornesbekundungen, die wir nach heutigem Maßstab als übertrieben empfinden, kamen gegen Ende des Mittelalters, vor rund 500 Jahren, aus der Mode, zumindest in der großen Politik. „Ab der frühen Neuzeit waren kaltblütige Politiker gefragt“, sagt Peter Schuster. Ein guter Fürst zeichnete sich durch die Beherrschung seiner Gefühle aus. In seinem Buch „Il Principe“ (Der Fürst) entwirft Niccolò Machiavelli Anfang des 16. Jahrhunderts den Idealtypus eines Fürsten, der ohne Gefühlsregung als oberstes Ziel seiner Herrschaft die Sicherung seiner Macht anstrebt – mit allen Mitteln.

 


Auch abseits großer Politik und der Herrscherdynastien gibt es überlieferte Emotionen. „In Gerichtsakten sehen wir beispielsweise empörte, wütende und zornige Menschen, die sich gegen Pfändungen wehren, die Stadtbediensteten beleidigen oder angreifen“, weiß Peter Schuster zu berichten. Auch Mitleid und Tränen sind vom einfachen Volk überliefert. Bei Hinrichtungen fühlten die Zuschauer oft mit dem Verurteilten. „Die Menschen waren damals weder empfindungslos noch waren sie Duckmäuser“, korrigiert der Geschichtswissenschaftler die Vorstellung vom abgestumpften und unterdrückten Menschen des Mittelalters.

Moralisch werten möchte der Historiker das Verhalten unserer Vorfahren nicht, weder im Guten noch im Schlechten. Denn er weiß, dass sich die menschliche Gesellschaft nicht immer weiter perfektioniert, wie sich das die Zeitgenossen der Aufklärung noch ausgemalt haben. Dass Heinrich IV. die vielen toten Krieger bedauerte, weil sie keine Adeligen waren, dürfte im 18. Jahrhundert mindestens für heftiges Naserümpfen gesorgt haben. Die Aufklärer standen „ganz schön breitbeinig“ über den religiös motivierten Herrschern des Mittelalters, sagt Schuster. Das hat sich bis heute kaum geändert. Mit diesem Vorurteil möchte der Mittelalter-Forscher allerdings aufräumen.

 

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