Startseite
  
 


Prof. Dr. Margrit Grabas
Wirtschafts- und Sozialgeschichte
(einschließlich Technik- und Umweltgeschichte)

       








                           
                           







 
     
   


Stellenwert der Wirtschafts- und Sozialgeschichte
(einschließlich Technik- und Umweltgeschichte)
im 21. Jahrhundert

   
 
 

   
 
1.
Wirtschaftsgeschichte als Teildisziplin sowohl der Geschichts-, als auch der Wirtschaftswissenschaften besitzt aufgrund ihrer Verknüpfung von systematischen und historischen Fragestellungen und Methoden einerseits, ihrer Nähe zur Bevölkerungs-, Technik- und Umweltgeschichte andererseits in hohem Maße Integrationsfunktion innerhalb der Sozial-, Geistes- und Technikwissenschaften. Dadurch ist es zum einen möglich, der im Verlaufe des 20. Jahrhunderts eingetretenen Enthistorisierung vor allem der Wirtschaftswissenschaften entgegenzuwirken und durch die historische Analyse sozio-ökonomischer Strukturen, Prozesse und Ergebnisse deren oftmals realitätsferne ökonomische Modellansätze zu falsifizieren. Damit kann die Wirtschaftsgeschichte helfen, den spätestens seit den 1980er Jahren (im angelsächsischen Raum) erkennbaren und sich nach 1989 stärker akzentuierenden Paradigmen-wechsel der Wirtschaftswissenschaften in Richtung einer wieder wertegebundenen und historischen "Kontextualisierung" der Ökonomie voranzutreiben. Zum anderen aber ist die Wirtschaftsgeschichte auch für die Entwicklung der Geschichtswissenschaft unverzichtbar, um die im 19. und 20. Jahrhundert variierende, seit der kulturwissenschaftlichen Öffnung des Fachs Mitte der 1980er Jahre erneut vorhandene Gefahr einer Entökonomisierung von Geschichte zu bannen.    
 
     
 
2.
Wirtschaftsgeschichte besitzt eine für die Studierenden der Wirtschafts- und Geschichtswissenschaften nicht zu unterschätzende Orientierungs-funktion innerhalb der immer komplexer sich entwickelnden, dabei komplizierte und schmerzhafte historische Wandlungsprozesse durch-laufenden gesellschaftlichen Praxis. Durch die Anlayse gerade der im Zeitablauf sich permanent wandelnden, dabei strukturelle Ungleich-gewichte und Instabilitäten der Gesellschaft erzeugenden Wechsel-beziehungen zwischen ökonomischen "Zwangslagen" und subjektiven "Handlungsspielräumen" werden gegenwärtige sozio-ökonomische Brüche und Veränderungen in ihrer Dramatik im Sinne einer bewußten Gestaltbarkeit von Entwicklung relativiert. So sehr ökonomische Prozeßvariablen einerseits - bei Vorhandensein bestimmter Bedingungskonstellationen - quantifizierbare objektive Zusammenhänge konstituieren, so wenig sind sie aufgrund der sozio-kulturell bestimmten Intentionalität menschlicher Handlungen historisch festgeschrieben.    
 
     
 
3.
Wirtschaftsgeschichte ist vor dem Hintergrund einer zunehmenden Regionalisierung der Weltwirtschaft in hohem Maße politikrelevant: nicht nur liefert sie die für intertemporale und internationale Vergleichsanalysen unterschiedlicher Volkswirtschaften und Wirtschaftsräume notwendigen langen Datenreihen; durch ihre Fokussierung der Wechselwirkung von objektiven und subjektiven Parametern der sozio-ökonomischen Entwicklung ist sie prinzipiell in der Lage, institutionelle Voraussetzungen, politische Rahmenbedingungen und sozio-kulturelle Normen- und Wertesysteme für individuelle und kollektive Lernprozesse der Gesellschaften bei der Bewältigung grundlegender Strukturwandlungen der Geschichte transparent zu machen. Dadurch aber leistet die Wirtschaftsgeschichte einen wesentlichen Beitrag für den immer dringender werdenden Wandel von der "Selbstbewegung der Sachenwelt" zur "Selbstbewegung der Subjekte". Oder anders formuliert - zur Humanisierung des volkswirtschaftlichen Produktions-, Verteilungs- und Austauschprozesses.    
 
     
 
4.
Die Praxis-(und Politik)relevanz der Wirtschaftsgeschichte zeigt sich insbesondere hinsichtlich ihrer engen Verflechtung mit technik- und umwelthistorischen Aspekten der Herausbildung und Entwicklung industrieller Marktgesellschaften.

Technik als Mittler im Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur, damit aber als Kulturfaktor ersten Ranges, hat die ihr prinzipiell inhärente Dichotomie von "Schöpfung" und "Zerstörung" erst unter marktintegrierten Bedingungen voll entfaltet: bilden technische Innovationen einerseits eine unabdingbare Voraussetzung für die Dynamisierung marktwirtschaftlicher Kreisläufe, so stellen sie andererseits angesichts der sich globalisierenden Märkte und in Abhängigkeit des immer schneller voranschreitenden Wissensstandes der Technik-wissenschaften ein für Mensch und Natur kaum noch kontrollierbares Gefahrenpotential dar.

Die Begrenzung von Technikfolgen - sowohl unter ethischem, ökologischem und sozio-ökonomischem Aspekt - kann nur in Verbindung mit der die Technik- und Umweltgeschichte einschließenden Wirtschaftsgeschichte realisiert werden. Nur das Verdeutlichen der historischen Dimension der Technikfolgenproblematik liefert das für die umweltpolitische Steuerung von gesellschaftlichem Wandel notwendige Selbstbewußtsein: Technik ist nicht - wie lange Zeit angenommen - das Ergebnis von unabwendbaren ökonomischen Sachzwängen, entlang einer schicksalhaft vorgegebenen Modernisierungslinie, sondern statt dessen das Resultat durchaus "varianter gesellschaftlicher Prozesse der Herausbildung von Handlungsorientierungen und Selektions-entscheidungen" der individuellen und kollektiven Akteure.
   
 



   
  Zur vertiefenden Lektüre: Grabas, M., Kultur in der Wirtschaftsgeschichte. Einführungsvortrag zum gleichnamigen Panel auf der Tagung des wirtschaftshistorischen Ausschusses des Vereins für Socialpolitik vom 7. März bis 9. März in München, in: Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 94 (2007)/2, S. 173-177

Grabas, M., Die Bedeutung der Wirtschafts- und Sozialgeschichtsschreibung im Kontext neuer wissenschaftlicher Herausforderungen im großgewordenen Europa, in: Internationale Wissenschaftliche Vereinigung Weltwirtschaft und Weltpolitik (IWVWW) – Berichte 133 (2003), S. 1-5

   
      nach oben