Anton Weberns Choralbearbeitung M. 84 (1906) im Kontext von Arnold Schönbergs Kompositionsunterricht

Dr. Sebastian Wedler (Utrecht University)

Anton Weberns Studienjahre unter Arnold Schönberg stellen bis heute ein beachtliches terra incognita dar – mit vielen „Studienwerken“, die nach wie vor einer wissenschaftlichen Aufarbeitung harren.  Dazu zählt auch die bisher unbeachtet gebliebene Choralbearbeitung M. 84, eine Komposition die Webern höchstwahrscheinlich im Jahr 1906 in Respons auf eine von Schönberg über die Sommerferien erteilte Aufgabenstellung hervorbrachte.  Auf der Grundlage philologischer Betrachtungen zur Reinschrift sowie ausgewählter Skizzen (archiviert an der Paul Sacher Stiftung) versucht dieser Vortrag einige zentrale didaktische und musiktheoretische Kontexte dieser Komposition zu rekonstruieren.  Im Besonderen wird dieser Vortrag sich auf eine doppelte Spurensuche begeben.  Zum einen werde ich Hinweise versammeln, die nahelegen, dass die Choralbearbeitung vor dem Hintergrund einzelner Leitideen aus Heinrich Bellermanns Der Contrapunct (1862) entstanden ist (und damit weitere Evidenz für die aus der Alban-Berg-Forschung kommende Annahme bereitstellen, wonach Bellermanns Schrift auf Schönbergs Kontrapunktlehre zu dieser Zeit entscheidenden Einfluss hatte).  Zum anderen wird es mir darum gehen, anhand spezifischer Motiv-Konstruktionen, die auffällig an Ausführungen aus dem ersten Band von Johann Christian Lobes Lehrbuch der musikalischen Komposition (1850) erinnern, deutlich zu machen, dass in diesen Manuskripten Kontrapunkt- und Formenlehre in einen produktiven Dialog eintreten, also keineswegs als zwei distinktive Lehren unvermittelt nebeneinander stehen.  Damit ergibt sich eine Perspektive auf diese Choralbearbeitung, die über den ersten Eindruck einer rein „konventionellen“ Handwerksarbeit hinausreichen dürfte: nämlich, dass sich Webern in diesen Materialien ein Verständnis von Kontrapunkt aneignet, das diesen keineswegs lediglich als Teil der „Vergangenheit“ sondern, gerade gegenteilig, als Ferment des gegenwärtigen Kompositionsstands - durchaus im emphatischen Sinne: der musikalischen Moderne - begreift, eine Perspektive, die sich mit Verweis auf Weberns biographische Dokumente weiter substanziieren lässt.  Auf diese Weise offeriert dieser Vortrag neben neuen philologischen Einblicken in den Webern-Nachlaß auch weitergehende Einsichten in die Ideenwelt des jungen Webern und die seines Lehrers.
Der Vortrag erfolgt in Englisch.

 

Sebastian Wedler is Assistant Professor of Musicology at Utrecht University. Before joining the Department of Media and Culture Studies in 2022, he spent ten years at the University of Oxford as a Departmental Lecturer in the Faculty of Music and Director of Studies for Music at Merton College (2019–22), Junior Research Fellow at St. Hilda’s College (2016–19), and a doctoral student at Merton College (2012–16). His works include articles and chapters in venues such as Music Analysis, Twentieth-Century Music, The Cambridge Companion to Music and Romanticism, The Cambridge Companion to Serialism, and Beethoven in Context (forthcoming). He is currently completing his first monograph on Anton Webern’s tonal works. He was elected Prize Scholar at Merton College, is the recipient of the ‘Link 2 Future’ Award from the Psychoanalytic Seminar Zurich, held scholarships from the Arts and Humanities Research Council UK and the Paul Sacher Foundation, and has been selected to deliver the 2021 Anton Webern Lecture at the University of Basel. In recognition of his teaching, he was shortlisted for Outstanding Tutor in the Humanities by the Oxford University Student Union.