Das Spätwerk Mieczysław Weinbergs und die musikalische Postmoderne

Antonina Klokova

Mieczysław Weinberg repräsentierte laut dem amerikanischen Musikforscher Peter Schmelz als Vertreter der älteren Komponistengeneration der Sowjetunion in den 1970er und 1980er Jahren  – der Kohorte Dmitrij Šostakovičs angehörend – die „artistic hopelessness“ bzw. musikalische Stagnation im Lande. In mehreren Kompositionen Weinbergs aus jener Zeit finden sich dabei einzelne der von Al’fred Šnitke formulierten „polystilistischen Tendenzen“  wieder – und diese sind laut Šnitke ideell aus der Musikästhetik der Postmoderne erwachsen.

Wie verhalten sich diese Umstände zueinander? Wie kann die Wahl der kompositorischen Mittel Weinbergs begründet werden? Handelt es sich dabei lediglich um die Suche nach musikalischen Impulsen  oder stieg Weinberg ungeachtet seiner in erster Linie generationsbedingten Außenseiter-Stellung mit in den musikästhetischen Diskurs ein, der von den Vertretern der jüngeren sowjetischen Avantgarde und Postavantgarde dominiert wurde?

Im Spätwerk Weinbergs zeigt sich die selten anzutreffende Überschneidung von „Konfiguration von Archaisierendem und Modernem“ (Dahlhaus)  mit dem „späten Denken“ in der sowjetischen Musik (Tamara Levaja) . Dem Verständnis dieser Gemengelage kommt das Wissen über die Person und das Schicksal Weinbergs als polnisch-jüdischem Exilanten in der Sowjetunion und seine andersartige musikalische Sozialisierung zugute. In einigen wenigen Selbstzeugnissen der Zeit bezieht sich Weinberg selbst auf diese Fragen. Die Auswertung des zeitgenössischen musikästhetischen Diskurses in der Fachliteratur innerhalb und außerhalb der Sowjetunion sowie dessen globale Rezeption soll der Kontextualisierung dieser biographischen Quelle beitragen.

 

Antonina Klokova absolvierte 2023 ihre Promotion an der Universität der Künste Berlin zum Thema „Erinnerung an den Holocaust im Instrumentalwerk Mieczysław Weinbergs. Kompositorische Handlungen in den Grenzen der sowjetischen Musikinstitutionen“. Während ihres Forschungsaufenthalts in Moskau übernahm sie 2017 die wissenschaftliche Projektkoordination des internationalen Forums „Mieczysław Weinberg (1919-1996): A Re-Discovery“. 2013-2017 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für die Geschichte jüdischer Musik am musikwissenschaftlichen Institut der Hochschule für Musik Franz Liszt in Weimar. Gemeinsam mit Jascha Nemtsov gab sie unter anderem die Erinnerungen des sowjetisch-jüdischen Komponisten Julian Krein heraus, die 2018 in ihrer deutschen Übersetzung erschienen („Julian Krein: Notizen aus meinem musikalischen Leben“, Wiesbaden). Antonina Klokova trug der Weinberg-Forschung sowie den Studien über die sowjetische Musik der Nachkriegszeit mit Aufsätzen auf Deutsch, Englisch und Russisch bei.