Gewaltig! Zu viele Noten? – Zu den Fassungen der 14. Klavieretüde von György Ligeti

Dr. Florian Besthorn (Paul Sacher Stiftung)

Vielfach wird berichtet, wie hoch György Ligeti die «Studies for Player Piano» von Conlon Nancarrow schätzte, bei denen bis zu 200 Anschläge pro Sekunde auf der Klaviatur ausgeführt werden. Dennoch hielt der vor hundert Jahren geborene Komponist in seinen Werken daran fest, dass diese von menschlichen Interpret:innen aufgeführt werden sollten, auch wenn er diesen durch die geforderte Virtuosität hierbei fast unmögliche Aufgaben stellte. Aus der Korrespondenz zwischen Ligeti und seinen Interpret:innen geht hervor, dass er die Erstfassung seiner 14. Klavieretüde (1993) als «utopisch schwer» einschätzte und daher eine «vereinfachte» Fassung schreiben wollte. Wurde «Coloana infinită» in das Repertoire diverser Interpret:innen aufgenommen, bildet die ursprüngliche Version – schliesslich als «14A Coloana fără sfârşit» bezeichnet – eine Ausnahme im Konzertprogramm. Ligeti schrieb in die Partitur, dass diese im erwünschten Tempo «eher auf einem mechanischen Klavier zu realisieren» sei; es existiert demnach eine Fassung auf einer Klavierrolle, die sogar für die «Ligeti Edition» bei Sony aufgenommen wurde. Zugleich wurden dennoch beide Fassungen in der Notenausgabe der "Études pour Piano" abgedruckt, sodass die Aufforderung, auch die frühere Fassung «lebendig» zu interpretieren, von Ligeti durchaus erhalten bleibt.
Auffallend ist, dass es sich bei der 14. Etüde nicht um eine vereinfachte Überarbeitung der Ursprungsversion handelt, sondern sie eine Neukomposition auf Basis der gleichen Strukturelemente darstellt. Mit einem analytischen Einblick möchte ich in meinem Vortrag diese beiden Fassungen gegenüberstellen und weiterhin herausstellen, dass die vorhandene Klavierrolle ebenfalls eine selbstständige Version ist: Diese bildet nicht den Notentext 1:1 ab, sondern zeigt signifikante Unterschiede, die schlussendlich gerade die zuvor darzustellenden Gemeinsamkeiten der Fassungen 14 und 14A in Frage stellen.

 

Florian Besthorn wurde mit einer Studie über die Kompositionen Jörg Widmanns promoviert und arbeitete anschliessend u. a. an der Akademie der Wissenschaften in Hamburg, der Ludwig-Maximilians-Universität München und der Humboldt-Universität zu Berlin. Seit 2022 ist er Direktor der Paul Sacher Stiftung in Basel. Forschungsschwerpunkte: Musik des 20./21. Jahrhunderts, Dirigent:innenfiguren im 20./21. Jahrhundert, Skizzenforschung und Editionswesen sowie Wechselbeziehungen zwischen Komponist:innen und Schriftsteller:innen.