Musikalische Korpusforschung: Aktuelle Trends und Herausforderungen

Musikalische Korpusforschung gewinnt angesichts der wachsenden Verfügbarkeit von Datensätzen sowie der Anwendung avancierter algorithmischer und datenanalytischer Methoden zunehmend an Bedeutung. Das Panel widmet sich diesem aktuell florierenden Feld sowohl aus metatheoretischen als auch praktischen, ergebnisorientierten Perspektiven und gewährt Einblicke in gegenwärtige Trends und Herausforderungen.

Programm:

14.00–14.10 Einführung
14.10–14.30 „Korpusforschung als Mittel historischer Musikpsychologie“, Frank Hentschel
Der Vortrag stellt Möglichkeiten vor, Korpusforschung zu nutzen, um musikpsychologische Fragestellungen anhand historischen Materials zu untersuchen. Von zentraler Bedeutung sind daher Textkorpora, die Aussagen über die Wahrnehmung von Musik enthalten. Im Idealfall werden sie mit Korpora korrespondierender Musikausschnitte verknüpft, um die Wahrnehmung der Musik und deren Merkmale in ihrem Zusammenhang abzubilden. Im Vortrag werden Möglichkeiten, Probleme und Perspektiven solch einer Korpusforschung skizziert. Die Ausführungen beziehen sich auf zwei bereits publizierte Aufsätze sowie Überlegungen, wie diese Forschung fortgeführt und erweitert werden kann.

Frank Hentschel ist seit Oktober 2011 Professor für Historische Musikwissenschaft an der Universität zu Köln. Zwischen 2007 und 2011 bekleidete er eine Professur an der Justus-Liebig-Universität Gießen (Historische Musikwissenschaft unter besonderer Berücksichtigung der Sozialgeschichte der Musik). Studium der Musikwissenschaft, Philosophie und der neueren deutschen Literatur in Köln und London. 1999 Promotion in Köln. 1999-2006 Wissenschaftlicher Assistent am Musikwissenschaftlichen Seminar der Freien Universität Berlin (Lehrstuhl Albrecht Riethmüller). 2003/2004 Forschungsaufenthalt an der Harvard University Cambridge, MA. 2006 Habilitation an der FU Berlin.

14.30–14.50 "Modellbasierte Korpusanalyse", Markus Neuwirth
Im Anschluss daran thematisiert Neuwirth die zentrale Bedeutung formaler Modellbildung in der Korpusforschung. Wichtige musikalische Domänen wie Polyphonie, Harmonik oder musikalische Form lassen sich technisch als Entitäten und deren Relationen konzeptualisieren. Im Vortrag sollen die vielfältigen Vorzüge formaler Modelle aufgezeigt werden, denen aufgrund ihrer generalisierenden Verfasstheit das Potenzial zukommt, Brückenschläge zwischen diversen theoretischen Beschreibungen zu ermöglichen. In der Musikforschung häufig nicht explizit dargelegte Modelle lassen sich gewinnbringend in Formalisierungen überführen und für computergestützte Korpusforschung nutzbar machen.

Markus Neuwirth bekleidet seit 2020 an der Anton-Bruckner-Privatuniversität eine Professur für Musikanalyse. Zuvor forschte er am Digital and Cognitive Musicology Lab der École Polytechnique Fédérale de Lausanne (EPFL), wo er zusammen mit Martin Rohrmeier das von der Volkswagen Stiftung geförderte digitale „From Bach to the Beatles“-Projekt leitete (2018–2020). Bis September 2016 war Neuwirth Postdoktorand an der Universität Leuven (gefördert durch den Fonds für wissenschaftliche Forschung – Flandern), wo er 2013 im Fach Musikwissenschaft mit einer Arbeit zu den rekomponierten Reprisen bei Joseph Haydn und seinen Zeitgenossen promoviert wurde. Seit 2022 ist Neuwirth Mitglied des Editorial Board der Fachzeitschrift Music & Science und bereits seit 2016 Mitherausgeber der Zeitschrift Music Theory and Analysis. Mit Florian Edler und Immanuel Ott zeichnet er gegenwärtig für die Open-Access-Reihe GMTH Proceedings der Gesellschaft für Musiktheorie verantwortlich. Zusammen mit Pieter Bergé gab er den Sammelband What is a Cadence? Theoretical and Analytical Perspectives on Cadences in the Classical Repertoire (Leuven University Press, 2015) heraus, der von der amerikanischen Society for Music Theory mit dem Outstanding Multi-Author Collection Award 2018 ausgezeichnet wurde. Neuwirth ist Ko-Autor (mit Felix Diergarten) einer musikalischen Formenlehre, die 2019 bei Laaber erschienen ist.

14.50–15.10 "Korpusforschung und Digitale Edition: ein Plädoyer für stärkere Intradisziplinarität", Fabian Moss
Interdisziplinarität ist für digitale Musikforschung eine conditio sine qua non und bereits durch die Verbindung musikwissenschaftlicher Forschungsfragen mit informatischen Methoden notwendigerweise gefordert. Dass dies grundsätzlich erfolgreich sein kann, ist durch zahlreiche Forschungsprojekte bestens belegt. Weniger stark im Fokus steht dabei häufig die Frage, inwiefern der Einzug dieser Methoden bestehende intradisziplinäre Fissuren verfestigt. Dies soll anhand der Themenfelder „Digitale Edition“ und „Musikalische Korpusforschung“ exemplarisch ausgeführt und gleichzeitig Perspektiven für einen engeren Austausch aufgezeigt werden.

Fabian Moss ist Juniorprofessor für Digitale Musikphilologie und Musiktheorie am Institut für Musikforschung der Julius-Maximilians-Universität Würzburg und Mitglied des Zentrums für Philologie und Digitalität „Kallimachos“ (ZPD). Seine Forschung bezieht Konzepte und Methoden aus verschiedensten Fächern, wie etwa Musikwissenschaft und -theorie, Mathematik, Informatik und Datenwissenschaften, mit ein und versucht so, interdisziplinäre Brücken zu bauen, um Musik und ihre Struktur besser zu verstehen.

15.10–15.30 "Erschließung von Audio-Korpora für die Musikforschung", Christof Weiß
Audiodaten bieten aufgrund ihrer leichten Verfügbarkeit und der vergleichsweise unaufwändigen Datenaufbereitung große Chancen für die Korpusforschung, zumal sie die Einbeziehung improvisierter, elektronisch generierter oder anderweitig notierter Musik erlauben. Die Extraktion expliziter Informationen über z.B. Tonhöhen, Akkorde oder (lokale) Tonarten aus Audiodaten stellt hierbei eine große Herausforderung dar. Der Beitrag stellt Strategien vor, solche Daten trotz einer fehlerbehafteten oder unscharfen Primäranalyse für die Korpusforschung nutzbar zu machen und demonstriert dies anhand zweier Beispielkorpora (klassische Instrumentalmusik und Jazz-Soli).

Christof Weiß ist Professor für Computational Humanities an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Er studierte von 2006–2012 Physik an der Julius-Maximilians-Universität und Komposition an der Hochschule für Musik Würzburg. Sein kompositorisches Schaffen umfasst Werke für Orchester, Ensemble und Chor sowie Kammermusik. Von 2007–2015 war er Stipendiat der Stiftung der Deutschen Wirtschaft (sdw) im Studien- und Promotionsstipendienprogramm. Ab 2012 promovierte Christof Weiß am Fraunhofer-Institut für Digitale Medientechnologie (IDMT) Ilmenau, betreut von Prof. Karlheinz Brandenburg. Ab 2015 war er Mitglied der Arbeitsgruppe Semantische Audioverarbeitung unter der Leitung von Prof. Meinard Müller an den International Audio Laboratories Erlangen, einer gemeinsamen Einrichtung der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) und des Fraunhofer-Instituts für Integrierte Schaltungen IIS. Im Jahr 2021 besuchte er im Rahmen eines DFG-geförderten Forschungsstipendiums die Gruppe Audiodatenanalyse und Signalverarbeitung bei Télécom Paris. In seiner Forschung hat Christof Weiß computergestützte Methoden zur Analyse von Musik-Audioaufnahmen entwickelt und damit einen Beitrag zu Forschungsfeldern wie Music Information Retrieval, Computational Musicology, Audiosignalverarbeitung und maschinelles Lernen geleistet. Dies beinhaltet die Erstellung von multimodalen Datensätzen und die Entwicklung geeigneter Analysealgorithmen. Die Anwendung solcher Algorithmen auf große Musiksammlungen (Korpusanalyse) zeigt das große Potenzial computergestützter Ansätze für die Musikwissenschaft und die digitalen Geisteswissenschaften.

15.30–16.00 Kaffeepause

16.00–16.20 „Distant Listening – Neues aus der Korpusforschung“, Johannes Hentschel
 Johannes Hentschel berichtet über ein vom SNF gefördertes Forschungsprojekt, das sich zum Ziel gesetzt hat, stilistisch heterogene Musiksprachen mit Blick auf Harmonik unter Nutzung korpusgestützter Methoden vergleichbar zu machen. Der Vortrag bietet Einblicke in die Genese eines der größten digitalen Datensätze vollumfänglicher harmonischer Analysen, wirft einige Schlaglichter auf stilometrische Auswertungsmethoden, und sucht Verknüpfungen zwischen statistischen Trends und musikgeschichtlichen Narrativen.

Der Akkordeonist, Sänger, Chorleiter und Musiktheoriedozent Johannes Hentschel studierte Schulmusik, Musiktheorie und Romanistik in Freiburg i. Br., Lübeck und Helsinki. Seit 2019 forscht er im Zuge des Doktoratsprogramms Digital Humanities an der École Polytechnique Fédérale de Lausanne (EPFL). Am Digital and Cognitive Musicology Lab (DCML) arbeitet er im SNF-geförderten „Distant Listening“-Projekt und bereitet eine Dissertation zum diachronen Stilwandel in der Musik vor, die von Martin Rohrmeier und Markus Neuwirth betreut wird.

16.20–16.40 "Modellierung historischer Repräsentativität bei der Zusammenstellung symbolischer Musikkorpora“, Maik Köster
Maik Köster verweist in seinem Vortrag auf die Problematik, dass sich die Korpusforschung in der Analyse historischer Kompositionspraxis weitestgehend auf wenige kanonisierte Komponisten beschränkt. Die Herausforderungen, ein Sample von Stücken, das die Vielfalt des in einem konkreten historischen Kontext rezipierten Repertoires abbildet, anhand historischer Daten zu begründen, sollen anhand des Streichquartetts im deutschsprachigen Raum des 19. Jahrhunderts diskutiert werden. Dieser Prozess stützt sich auf quantitative und qualitative Auswertungen von Konzertprogrammen, historischen Musikzeitschriften und Musikverlagsdaten.

Maik Köster ist wissenschaftlicher Mitarbeiter für historische Musikwissenschaft an der Universität zu Köln. Zu seinen Forschungsinteressen gehören korpusbasierte Forschungsmethoden, Urheberrecht und historische Musiktheorien mit besonderem Schwerpunkt auf Sonatenform. Nach dem Studium der Musikwissenschaft an den Universitäten Mainz und Köln war er 2021 am Projekt „Digitizing the Dualism Debate“ am Digital and Cognitive Musicology Lab in Lausanne beteiligt. Sein aktuelles Promotionsprojekt ist eine computergestützte Korpusstudie über Streichquartett-Expositionen im 19. Jahrhundert und wird von Frank Hentschel und Markus Neuwirth betreut.

16.40–17.30 Diskussionsrunde