Varietät statt Zielsuche: Beobachtungen zur kompositorischen Gestaltung der Sinfonie vor 1770

Dr. Michael Braun (Universität Regensburg, Institut für Musikwissenschaft)

Die Zeiten, in denen es unbedenklich erschien, den Begriff der „Vorklassik“ ohne Anführungszeichen zu schreiben, sind längst vorbei. Zu offensichtlich ist der marginalisierende Unterton dieser Bezeichnung. Aber auch die terminologische Vorsicht hat die Wahrnehmung der fraglichen Zeitspanne als bloß vorbereitende Übergangsperiode zwischen „Barock“ und „Klassik“ nicht nachhaltig verdrängen können.

So ist es noch immer nicht unüblich, die Entwicklung der konzertanten Sinfonie als ein lineares Fortschreiten von bescheidenen Anfängen in den 1730er Jahren über eine immer gelungenere formale und gestalterische Schreibweise bis hin zu einem vorläufigen Höhepunkt in den reifen Sinfonien Haydns und Mozarts aufzufassen. Konkret sind es vor allem zwei Zielpunkte, denen eine eigenständige Wahrnehmung von Sinfonien aus der Zeit vor 1770 vielfach zum Opfer gefallen ist: zum einen die Prinzipien, die sich aus dem reiferen sinfonischen Schaffen Haydns herauskristallisieren lassen, zum anderen normative Vorstellungen von einer sinfonischen Sonatensatzform. Selbst dort, wo derartige Kriterien nicht dezidiert als qualitative Gradmesser herangezogen werden, fällt es schwer, nicht wenigstens eines von beidem als Vergleichsmoment heranzuziehen. Zu vertraut ist uns die spätere Entwicklung der Sinfoniekomposition, zu unvertraut das immense frühere Repertoire.

Ist die Einseitigkeit der etablierten Betrachtungsweise(n) schon länger bekannt, gibt es doch erst in den vergangenen eineinhalb Jahrzehnten deutliche Anzeichen eines nachhaltigen Perspektivwechsels. Bemerkenswert ist in dieser Hinsicht etwa Michael Spitzers Beitrag zum Cambridge Companion to the Symphony (2013), in dessen Titel er eine Auswahl „vorklassischer“ Komponisten bewusst als „Six great early symphonists“ vorstellte.

Vor diesem Hintergrund etablierter Betrachtungsweisen und angestoßener Neubewertungen versucht das Referat, verschiedene formale Gestaltungsweisen in der Sinfoniekomposition vor 1770 in Opposition zu (statt vor dem Hintergrund von) Konzepten der ‚klassischen‘ Sonatensatzform aufzuzeigen. Weit eher als der Eindruck einer Suche nach normativen Kompositionsregeln entsteht dabei das Bild eines Repertoires, das von einem Wettbewerb der Vielfalt und Abwechslung lebte und in dieser Hinsicht noch wenig erschlossen ist.

 

Michael Braun ist Wissenschaftlicher Assistent am Institut für Musikwissenschaft der Universität Regensburg. Nach dem Studium der Musikwissenschaft und Geschichte in Regensburg und Padua wurde er mit seiner Dissertation Béla Bartóks Vokalmusik (erschienen 2017) promoviert. Während die Musik Bartóks als Forschungsschwerpunkt in weiteren Aufsätzen ausgebaut wurde, konzentrierte sich die 2021 abgeschlossene Habilitationsschrift, deren Veröffentlichung in Vorbereitung ist, auf die Geschichtsschreibung zur frühen Sinfonie, insbesondere zum Schaffen Giovanni Battista Sammartinis (1700/01–1775). Als weitere Interessen in Forschung und Lehre haben sich das Phänomen nationaler Zuschreibungen zu Instrumentalmusik und die Geschichte und Funktionsweise von Filmmusik etabliert.