Kunst

Automedon, der Wagenlenker

Neben der Serra-Plastik ist es sicher das bekannteste und auffälligste, vielleicht auch meistdiskutierte Kunstwerk auf dem Saarbrücker Campus: der 1993 errichtete „Automedon“ des saarländischen Künstlers Oswald Hiery. Unübersehbar erhebt er sich auf dem kreisförmigen Platz zwischen dem Leibniz-Institut für Neue Materialien und dem Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz, zahllose Passanten begegnen täglich auf ihrem Weg zur Mensa oder zu den Parkplätzen dem eindrucksvollen Werk.

Eine in Anzug, Hemd und Krawatte bürgerlich-geschäftsmäßig gekleidete, männliche Figur thront mit ausgebreiteten Armen auf einer Stele oder Rampe aus rostigem Eisen, die Füße auf einem Trittgitter stehend. Statt der Hände sind beidseits flügelartige Gebilde aus Lochblech angebracht. An der Stele, in Höhe der Füße, finden sich gedoppelte Speichenräder, deren Sporne an antike Streitwagen denken lassen. Die Figur schaut konzentriert, die Augen mit einer Schutzbrille bedeckt, in die Ferne. Der nach vorn hin offene Standort suggeriert eine Startposition für ein mögliches Abheben. Aber würde dieser Flug gelingen, angesichts der dürftig wirkenden Konstruktion? Oder wäre es nur ein Abheben zum Abstürzen?1

Der Name Automedon weist auf einen nicht allzu bekannten Charakter aus der griechischen Mythologie; in Homers Ilias ist er ein treuer Gefährte des Helden Achill und führt dessen unsterbliche Pferde im Kampf gegen Troja. Sein Name wurde im klassischen Altertum zum Inbegriff und Synonym eines Wagenlenkers. Allerdings ruft die geflügelte Figur auch die Erinnerung an Ikarus wach, der beim Flug mit den von seinem Vater Dädalus konstruierten Flügeln durch eigenen Übermut zu Tode stürzte. Denn Hierys Automedon scheint ebenfalls für einen Flug nicht recht vorbereitet, die Apparatur wirkt wie notdürftig selbstgebaut, die löchrigen Flügel wenig vertrauenerweckend.2

 

Offenkundig thematisiert das Kunstwerk das Zusammenwirken von Mensch und Technik, jedoch vor allem im Zeichen der Ambivalenz. Es bleibt offen, ob dieser Automedon, wie ein verfremdeter Lilienthal, das erfolgreiche Streben des Menschen nach Wissen und technischem Fortschritt vor Augen führt oder ob er als Appell zu verstehen ist, sich nicht leichtfertig auf eben diesen zu verlassen. Die vielfältigen Deutungen der Figur reichen vom aufbruchsbegeisterten Hoffnungsträger bis hin zum Verblendeten, der seine Grenzen nicht erkennen will. Unter einem Wagenlenker stellt man sich jemanden vor, der die Zügel in der Hand hält, die Fahrtrichtung bestimmt, einen Macher. „An dieser Stelle, hab ich mir gesagt, wollte ich den Automedon, weil er bei den Griechen so ein Hauptmann, ein Manager, ja, so ein Industrieller war“, erklärte Hiery selbst über seinen Helden. Die Figur auf der eisernen Rampe jedoch lenkt nichts, hat nicht einmal Hände dafür, sie scheint nicht in der Hand zu haben, was als nächstes geschieht.2

In jedem Fall ist „Automedon“, platziert inmitten zweier technikwissenschaftlicher Institute, ein anregender, vieldeutiger Kommentar zu der zukunftsgerichteten Forschung, die in ihnen betrieben wird; Werk und Aufstellungsort sind spannungsvoll aufeinander bezogen. Lenken oder gelenkt werden, Chancen und Gefahren des Fortschritts, Veränderung des Menschen durch Technik – die Auseinandersetzung mit diesen Themen ist auch dreißig Jahre nach der Entstehung des Kunstwerks unverändert relevant.3

Ute E. Flieger / Thilo Offergeld

 

Anmerkungen

  1. Czymerska, Automedon, S. 62f.
  2. Homer, Ilias, IX 209, XVII 429, 536, XVI 145, XVII 516.
  3. Dittmann, Architektur, S. 32; Leber, Automedon, S. 5f.; Hiery/Gulden, Geburt, S. 26 (Zitat).
  4. Online-Dokumentation des Werks von Oswald Hiery durch Udo H. A. Schwarz.