Prof. Dr. Dr. h.c. Tiziana Chiusi
Forschungsgebiete
Ein zentrales Betätigungsfeld der innovativen Arbeit der römischen Juristen war das "Ausländerrecht". Das nur für die Stadt Rom geltende Zivilrecht bedurfte spätestens ab dem Zeitpunkt, zu dem aus dem kleinen Dorf am Tiber ein Weltreich geworden war, der Weiterentwicklung. Die unabdingbare Einbeziehung von Peregrinen in das Wirtschaftsleben einer multiethnischen Gesellschaft und die einheitsstiftende Wirkung des Privatrechts mag man aus heutiger Sicht als beeindruckende Integrationsleistung der römischen Juristen begreifen. Gleichzeitig entstanden hier die wichtigsten Rechtsinstitute des heutigen Vertrags- und Wirtschaftsrechts.
Die Erforschung dieser Zusammenhänge sowie der Arbeitsmethode der Juristen als Schöpfer von Rechtsinstituten, die über die Jahrhunderte hinweg alle europäischen Rechtsordnungen geprägt haben, vermittelt letztlich die umfassende Bedeutung des Privatrechts als integratives, ordnungs- und einheitsstiftendes Instrument innerhalb einer Gemeinschaft. Sie dient aber auch der Ausarbeitung von sozialen und juristischen Modellen für unsere immer heterogener werdende Gesellschaft.
Dieser Themenbereich ist wiederholt Gegenstand von Aufsätzen von Prof. Dr. Dr. h.c. Chiusi (siehe Schriftenverzeichnis) sowie einer methodologisch geprägten Habilitationsschrift zu den Wechselwirkungen von antiker Rhetorik und Jurisprudenz gewesen, die in den Jahren 2008/2009 auch von der DFG gefördert wurde. (Deren Verfasserin wurde inzwischen als Ordinaria nach Zürich berufen). Gegenwärtig ist Prof. Dr. Dr. h.c. Chiusi Teil des Forschungsprojekts "The Cambridge History of International Law, Volume 4: International Law in the Middle East and the Mediterranean during Antiquity: Part 2" und widmet sich im Rahmen dessen dem Teilbereich "Dispute settlement in the Greek and Roman world (600 BCE-650 CE)".
Ausgehend vom antiken Sklaven- und Ausländerrecht liegt ein weiterer Forschungsschwerpunkt von Prof. Dr. Dr. h.c. Chiusi auf dem Verhältnis von Privatrecht und Menschenrechten im weitesten Sinne. Wurde in der Antike der Schutz des Einzelnen noch durch zivilrechtliche und zivilprozessuale Rechtsinstitute gewährleistet, verlagerte sich dieser im Zuge der Aufklärung und des Konstitutionalismus mehr und mehr auf das Verfassungsrecht und die privatrechtlichen Mechanismen wurden vernachlässigt. Deren Bedeutung steht dagegen im Vordergrund der wissenschaftlichen Tätigkeit von Prof. Dr. Dr. h.c. Chiusi, die bereits mehrere Dissertationen zu Fragen des Bürgschafts-, des Minderjährigen- und des Familien- und Erbrechts betreut hat.
Auch das Bereicherungsrecht nimmt einen besonderen Platz in Forschung und Lehre von Prof. Dr. Dr. h.c. Chiusi ein. Geht es hier um das „suum cuique tribuere“ und damit, wie auch der BGH formuliert, um Billigkeit, stehen neben den sozio-ökonomischen Implikationen vor allem die juristisch-technischen Lösungsansätze in Vergangenheit und Gegenwart im Zentrum der Forschung.
Die Entwicklung von der römischen „actio de in rem verso“ als einer Klage aus dem Sklavenrecht mit geschäftsbesorgungsrechtlichen Anklängen über die gemeinrechtliche Versionsklage bis hin zu der französischen actio de in rem verso und dem deutschen Kondiktionensystem bewegt sich zwischen rechtstechnischen Erwägungen, ökonomischen Erfordernissen und elementaren Gerechtigkeitsfragen. Zu diesem Thema hat Prof. Dr. Dr. h.c. Chiusi ihre Habilitationsschrift (siehe Schriftenverzeichnis) verfasst mit einer Arbeit, die bereits in 2. Auflage gedruckt wurde und eine fast hundertjährige Literaturlücke geschlossen hat.
In höherem Maße als bei anderen Schuldverträgen ist die Schenkung auch ein soziales Phänomen, bei dem menschliche Bindungen mehr im Vordergrund stehen als rechtliche. Die Normierung der Schenkung, von der misstrauischen Haltung des römischen Rechts gegenüber unentgeltlichen Zuwendungen, die sich bis heute in den romanischen Ländern fortsetzt, bis zum Umgang mit nichtehelichen Lebensgemeinschaften fordert das Privatrecht in seiner umfassenden Dimension, fördert es aber auch. Aus diesem Grund ist die Frage von besonderer Bedeutung, wie die europäischen Rechtsordnungen auf der Basis ihrer romanistischen Herkunft mit diesem juristisch-sozialen Phänomen umgehen. Durch die Feststellung von Ähnlichkeiten und Unterschieden sowie der historischen Gründe kann mittelfristig die Vorlage eines einheitlichen europäischen Zivilrechts vorbereitet werden. Erste Marksteine der Untersuchung der Genese des europäischen Rechts unter dem Blickwinkel der umfassenden Dimension des Privatrechts durch die Rechtsvergleichung der wichtigsten europäischen Rechtsordnungen im Bereich des Schenkungsrechts sind bereits in den Vorbemerkungen der Kommentierung von Prof. Dr. Dr. h.c. Chiusi in "dem" Standard-Kommentar zum Zivilrecht, in J. von Staudingers Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch: Staudinger BGB - Buch 2: Recht der Schuldverhältnisse: §§ 516-534 (Schenkungsrecht), veröffentlicht worden.
Das Bestreben, eine Rechtsordnung in seiner Gesamtheit erfassen zu wollen, um sich ein Urteil von ihren Besonderheiten zu bilden und sie anschließend mit anderen Rechtsordnungen zu vergleichen, kann nicht auf der Stufe des materiellen Rechts verharren, denn allzu oft entfalten privatrechtliche Institute ihre besondere Wirkungsweise erst im Wechselspiel mit ihrer prozessualen Durchsetzung. Das gilt im Besonderen für das Römische Recht mit seiner actionen-rechtlichen Sichtweise, gewährt aber auch besondere Einblicke in die Rechtswirklichkeit moderner Rechtsordnungen.
Dieser spezifisch prozessuale Blickwinkel begleitet Frau Professor Chiusi schon ihre gesamte wissenschaftliche Laufbahn (siehe Schriftenverzeichnis) und prägt ihre Forschungstätigkeit bis heute. Mittlerweile ist eine von der Lehrstuhlinhaberin betreute Promotion erschienen, die auch unter Berücksichtigung der rechtshistorischen Perspektive Widersprüche zwischen materiell-rechtlichen und prozessualen Haftungsregimen im deutschen Kostenerstattungsrecht untersucht.
Der Gerichtshof der Europäischen Union als Motor des europäischen Integrationsprozesses ist häufig Ziel von Kritik geworden, die über bloße Urteilsbewertung hinausgeht und sich zu einer die Autorität und Legitimität des Gerichts unterminierenden Institutionenkritik formiert. Unter dem Vorwurf einer Ersatzgesetzgebung werden zumeist einzelne, politisch wirkmächtige und bisweilen juristisch umstrittene Urteile in den Fokus genommen. Sollen aber fundierte, methodische Aussagen über die Einflüsse, Auswirkungen und Wechselwirkungen zwischen Rechtsprechung und Gesetzgebung auf Unionsebene getroffen werden, bedarf es einer großflächigen, systematischen Untersuchung, die über einzelne Entscheidungen weit hinausgeht. Im Zentrum eines Projekts des Instituts für Europäisches Recht steht daher die Untersuchung, in welchem kausalen Verhältnis die Rechtsprechung des EuGH zur Richtliniensetzung vor allem in den Bereichen des Wirtschaftsrechts steht, um so grundlegende Erkenntnisse für den europäischen Integrationsprozess ableiten zu können. Infolge dieser Untersuchungen ist ein Aufsatz von Prof. Dr. Dr. h.c. Chiusi mit dem Titel „Rechtsprechung des EuGH und EU-Gesetzgebung“ (RdA 2022, 253-256) erschienen.