10.04.2024

Menschen in Grenzregionen sind die besseren Europäer! Oder etwa doch nicht?

Portrait von Georg Wenzelburger
© Thorsten MohrProf. Dr. Georg Wenzelburger

Wer in einer Grenzregion lebt, ist aufgeschlossener, internationaler, „europäischer“ als die Bewohnerinnen und Bewohner im Binnenland. Sollte man meinen. Das stimmt aber gar nicht, wie die Professoren Georg Wenzelburger (Politikwissenschaft) und Martin Schröder (Soziologie) sowie dessen Postdoktorand Moritz Rehm herausgefunden haben. Sie haben untersucht, wie „europäisch“ Menschen in Grenzregionen tatsächlich denken. Die Studie wurde im „Journal of Common Market Studies“ veröffentlicht.

In Grenzregionen wie der unseren im Saarland werden sie besonders gerne beschworen, die Geister von Robert Schuman, Konrad Adenauer sowie anderen Gründervätern und -müttern der europäischen Einigung nach dem Zweiten Weltkrieg. Insbesondere in Grenzregionen scheinen die Bande des grenzüberschreitenden Zusammenhalts stark zu sein, hier ist der „Geist Europas“ lebendig, sind die Menschen aufgeschlossener für Europa als im Binnenland, wo die nächste Grenze weit weg ist. Grenzregionen sind die „Hotspots“ der europäischen Einigung, so die allgemeine Annahme der europäischen Politik. Zehn Milliarden Euro sind deswegen in den Jahren 2014 bis 2020 über das so genannte Interreg-Programm der EU in die Förderung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit geflossen. Ähnlich viel soll in den kommenden Jahren fließen.

Aber sind die Menschen in Grenzregionen tatsächlich aufgeschlossener als ihre Zeitgenossen in den Kerngebieten der Länder? Denken Grenzland-Bewohner wirklich „europäischer“, sind sie Europa verbundener als anderswo? Die ernüchternde Antwort lautet: nein, sind sie nicht.

Das haben der Postdoktorand Moritz Rehm, Soziologieprofessor Martin Schröder und  Politikprofessor Georg Wenzelburger an der Saar-Universität herausgefunden. Dafür haben sie die Angaben von rund 25.000 Deutschen aus dem sozio-oekonomischen Panel untersucht, der größten Langzeit-Datensammlung Deutschlands. Diese hat Personen in Binnen- und Grenzregionen im Jahr 2020 gefragt, wie stark sie sich Europa emotional verbunden fühlen. „Die Ergebnisse zeigen erstaunlicherweise, dass das Leben in einer Grenzregion nicht mit einer stärkeren Bindung an Europa einhergeht “, fasst Martin Schröder das zentrale Ergebnis der Studie zusammen.

Dabei könnte es doch sein, dass eher Hochgebildete, Gutverdiener oder sonst wie privilegierte Grenzregionen nutzen, um Europa zu erleben. Doch es spielte auch keine Rolle, welchen Bildungsabschluss oder Einkommen die befragten Personen haben. „Wir haben anhand der Befragungsergebnisse erkennen können, dass es egal ist, ob jemand zum Beispiel einen mittleren Bildungsabschluss oder einen akademischen Abschluss hat. Die Verbundenheit zu Europa ist durch alle Bildungsschichten und auch ansonsten in allen Bevölkerungsgruppen in Grenzregionen nicht größer als in Inlandsregionen“, so Martin Schröder weiter.

Die drei Autoren raten als Schlussfolgerung aus ihren Beobachtungen von einer „allzu optimistischen Vorstellung“ von Grenzregionen als Biotope glühender Europa-Verbundenheit ab. Stattdessen möchten sie nun genauer hinschauen, weshalb die Europa-Verbundenheit in Grenzregionen laut der aktuellen Untersuchung nicht höher ist als im Inland.

Ganz fallenlassen möchten sie die These einer Wirkung von Grenzregionen auf Verbundenheit mit Europa also nicht, vielmehr gelte es, die jetzigen Studienergebnisse mit weiteren, genaueren Analysen zu bestätigen oder zu widerlegen. Denn es könnte in Grenzregionen beides stärker ausgeprägt sein: Europa könnte einerseits in Grenzregionen stärker zu spüren sein als im Binnenland; genauso gut könnten Grenzregionen andererseits abseits aller Europa-Romantik auch gleichzeitig Konfliktzonen sein, in denen nationale Unterschiede unvermittelter aufeinanderprallen als im Inland. Das könnte für das Gegenteil dessen sorgen, was die Politik mit ihren Fördermilliarden erreichen möchte.

Der Artikel Border Regions as Nuclei of European Integration? Evidence From Germany ist am 5. März 2024 im Journal of Common Market Studies erschienen. Er ist unter https://doi.org/10.1111/jcms.13607 online abrufbar.

Weitere Informationen:
Dr. Moritz Rehm
E-Mail: moritz.rehm(at)uni-saarland.de

Prof. Dr. Martin Schröder
E-Mail: martin.schroeder(at)uni-saarland.de

Prof. Dr. Georg Wenzelburger
E-Mail: georg.wenzelburger(at)uni-saarland.de