Forschungsprojekt 2015-17 "Studieren ohne Abitur"

Forschungsprojekt 2015-17 "Studieren ohne Abitur im Saarland"

Projektleitung und -durchführung:
Prof. Dr. Eike Emrich, Leiter des Arbeitsbereich Sportökonomie und Sportsoziologie an der Universität des Saarlandes, Dr. Freya Gassmann, MSc. Michael Koch,  wissenschaftliche/r Mitarbeiter/in am Sportwissenschaftlichen Institut

Zielsetzung des Projektes:
Im Saarland liegt die Quote der Studienanfänger/innen, der Studierenden und der Absolvent/innen ohne Abitur deutlich unter dem Bundesdurchschnitt. Aufgrund dieser erheblichen Abweichungen besteht im Saarland insbesondere der Bedarf an empirisch gesicherten Befunden zu Ursachen und Verbesserungsmöglichkeiten (z.B. veränderte institutionelle Regelungen) dieser Situation, welche durch die Untersuchung analysiert werden sollen.
Befunde früherer Untersuchungen deuten darauf hin, dass das Potenzial zur Erhöhung der Anzahl der Studierenden ohne Abitur noch groß ist. Interessant ist dabei zumindest bezogen auf das Saarland zudem, dass die Studierenden ohne Abitur eher keine ingenieurwissenschaftlichen und betriebswirtschaftlichen Studiengänge wählen. So wird im Saarland zumindest partiell aus Sicht der Politik „am Bedarf vorbei“ studiert. Falls es gelänge, die Ursachen hierfür zu ermitteln, so könnte dies auch Erkenntnisse über wirksamere Anreize liefern. Diese könnten wiederum die Basis für eine Änderung der Rahmenbedingungen sein, um einerseits den Anteil der Studierenden ohne Abitur an der Gesamtstudierendenschaft sowie andererseits den Anteil der sich für andere Tätigkeitsfelder Qualifizierenden zu steigern. Aus dieser Problematik heraus soll in der Untersuchung die eigentliche Bildungsentscheidung eines Individuums, das ohne Abitur vor der Frage steht, studiere ich oder nicht, detailliert untersucht werden, um so auf dieser Basis über wirkungsvolle Anreizkonfigurationen datenbasiert diskutieren zu können.

Zentrale Forschungsfragen und Methodik:
a) Für aktuell Studierende und Abbrecher
„ - Welchen Einfluss hat die soziale Herkunft auf die Bewertung des Investitionsrisikos für ein Studium?
„ - Welchen Einfluss hatte die Einkommenslage auf die Bildungsentscheidung?
„ - Welche Bedeutung hat Bildungsgewinn?
„ - Welche Rolle spielt der Schwierigkeitsgrad des Studiums?

b) Welche institutionellen Hilfen gibt es und wie wirken sie, wer nimmt sie ggf. wie in Anspruch?

c) Wie bewerten erfolgreiche Absolventinnen und Absolventen die Kosten Nutzen-Bilanz?

40 Leitfadeninterviews mit Studierenden, Studienabbrechern, Absolventen, alle ohne Abitur; computergestützte Auswertung mittels MAXQDA
10 Leitfadeninterviews mit personalverantwortlichem Führungspersonal aus produzierenden Betrieben

Forschungsergebnisse in Kurzversion:
Studieren ohne Abitur ist seit einigen Jahren auch neben dem klassischen Weg über die allgemeine oder fachgebundene (für Fachhochschulen) Hochschulreife und der Möglichkeit, nach einer Meisterlehre ein Studium anzuschließen, möglich. Es soll beruflich qualifizierten Personen einen Zugang zur Hochschule eröffnen und dadurch die Durchlässigkeit im Bildungssystem verbessern. 12.530 Personen ohne Abitur haben sich deutschlandweit im Jahr 2015 ohne Abitur neu immatrikuliert, das entspricht 2,5% aller Studienanfänger/innen. Im Vergleich zum Bundesdurchschnitt studieren im Saarland mit 0,8% deutlich weniger Studienanfänger ohne Abitur. Gleiches zeigt sich auch im Anteil der Studierenden ohne Abitur an allen Studierenden (Bund: 1,9%; SL: 0,6%) sowie dem Anteil an den Absolvent/innen (Bund: 1%; SL: 0,5%).

Um mehr über diese Gruppierung zu erfahren, z.B. welche Motive und Erwartungen sie hegen, auf welche Schwierigkeiten und Unterstützungsleistungen sie trafen, welchen Abschluss sie erworben haben und wie sie ihre Entscheidung zum Studium bewerten, wurde eine empirische Studie mit drei verschiedenen Erhebungsmethoden eingesetzt. Basierend auf einer Dokumentenanalyse der Bewerberunterlagen von Studiumsinteressierten (534 Anträge) wurden nachfolgend aktuelle und ehemalige Studierende ohne Abitur (225 Studierende: 136 UdS, 36 htw, 53 DHfPG) durch die Hochschulen kontaktiert, um an einer Online-Befragung teilzunehmen. Der Rücklauf betrug 27% (61 Studierende, UdS und htw, Studierende der DHfPG nahmen nicht teil). Zudem wurden zwei Leitfadeninterviews mit Arbeitnehmervertretern durchgeführt. Dieses Design eröffnet durch den Abgleich der erhobenen Daten die Möglichkeit einer Methodentriangulation.

Die Studierenden ohne Abitur sind im Schnitt 32,4 Jahre alt und etwas mehr als die Hälfte (57%) sind Frauen. Die Mehrzahl davon nennt die mittlere Reife als höchsten erworbenen Bildungsabschluss. 19%  stammen aus einem Elternhaus, in dem beide Eltern einen Hauptschulabschluss haben und in 21% der Fälle haben beide Elternteile den mittleren Bildungsabschluss.

Die Studierenden entscheiden sich für ein Studium ohne Abitur aufgrund verschiedener Erwartungen, die sie mit einem erfolgreichen Abschluss verbinden. Als Motive wird der Wunsch nach Weiterbildung, nach einem höheren formellen Bildungsabschluss sowie Chancen auf ein höheres Gehalt und Aufstieg genannt. Eine untergeordnete Rolle spielen die Wünsche der Partner, Familie oder des Arbeitgebers. Der Aufwand wird im Sinne einer Kosten-Nutzen-Abwägung für die Punkte „beruflich“, „für mein fachliches Wissen“ sowie für die Aspekte „meine persönliche Entwicklung“ und „für die Zufriedenheit mit mir selbst“, positiv bewertet, während die Einschätzung zu den Punkten „finanziell gelohnt“ und „für mein Wissen zu gesellschaftlichen Aspekten“ weniger eindeutig ausfällt. Fachliche Probleme im Studium belasten die Studierenden im Vergleich mit anderen möglichen Faktoren wie Problemen mit Kommilitonen, der Verwaltung, dem Prüfungsamt oder dem Dozenten am stärksten.

Gefragt wurden auch nach den Unterstützungsleistungen, die für sie an der Hochschule angeboten werden. Für die Studierenden ist eine allgemeine und fachspezifische Studienberatung Pflicht, die Zufriedenheit mit diesen Angeboten liegt im mittleren Bereich. Ein wenig besser werden die Angebote Tutorien und selbstorganisierte Lerngruppen bewertet, wobei die Lerngruppen die höheren Zufriedenheitswerte aufweisen. Weniger zufrieden waren die Studierenden mit Dozentensprechstunden und Vorbereitungskursen. Die meisten Studierenden ohne Abitur bewerben sich auf den Studiengang Medizin oder auf sonstige medizinisch- oder gesundheitsbezogene Studiengänge. Technische bzw. naturwissenschaftliche Berufe (MINT-Fächer) werden hingegen deutlich seltener gewählt. Es ist zu vermuten, dass für Beschäftigte in technischen und naturwissenschaftlichen Berufen, die in vielen Fällen in der Industrie tätig sind, die vorherrschenden Arbeitsbedingungen günstiger sind, wodurch der Wunsch nach einem Studium eher nicht aufkommt.

Verglichen mit dem Bundesdurchschnitt hat das Saarland mit 0,8% die geringste Quote von Studierenden ohne Abitur an saarländischen Hochschulen. Bei der Betrachtung der Quote muss beachtet werden, dass die generelle Abiturquote sich ebenso wie die Studierneigung über die Kohorten in den letzten Jahren erhöht hat, damit verringert sich die Gruppe derer, für die ein Studium ohne Abitur in Frage kommt. Zudem wurden die Zugangsvoraussetzungen zum Studium ohne Abitur mit dem neuen saarländischen Hochschulgesetz (11/2016) verschärft.

Betrachtet man den Wunsch der Politik nach einer Verbesserung der Durchlässigkeit des Bildungssystems sowie die aktuellen Verschärfungen im saarländischen Hochschulgesetz, so findet hier eine Entkopplung von Reden und Handeln statt und/oder unterschiedliche Akteure mit divergierenden Meinungen zum Studium ohne Abitur agieren unabhängig voneinander.