Thematik

Thematik

Das Sinnliche erfährt in künstlerischen Werken der jüngeren Vergangenheit eine neue Konjunktur: Medienübergreifend wird versucht, den Rezipienten/-innen nicht nur kognitiv-intellektuelle, sondern auch sensorische Erfahrungen zu vermitteln. So weisen Bücher wie Jonathan Safran Foers Tree of Codes (2010) oder Abrams’ und Dorsts S. (2013) eine nahezu bildkünstlerische Dimension auf und wollen nicht nur gelesen, sondern auch ertastet werden. Die seit den 2010er-Jahren auch in Deutschland an Beliebtheit gewinnenden Escape Rooms ermöglichen den Besuchern, fiktive Umgebungen – beispielsweise aus den Romanreihen Harry Potter, Sherlock Holmes oder Herr der Ringe – mit allen Sinnen zu erleben. In den Arbeiten des österreichischen Künstlers Wolfgang Georgsdorf steht das ästhetische Potential des Geruchs im Vordergrund: Mit dem von ihm entwickelten ‚Smeller‘ können komplexe Geruchssequenzen mit Klängen, Filmen, Theater oder Tanz kombiniert werden. In den interaktiven Installationen von Theaterkollektiven wie dem dänischen Performance-Kollektiv Signa können Besucher/-innen auf vielfältige Weise mit Räumen, Objekten und Schauspielern interagieren und sich frei durch Kulissen und Requisiten bewegen. Allen voran im Bereich des Digitalen, insbesondere in der Virtual Reality, kommt dem Haptischen eine zentrale Rolle zu. Der HaptX-Glove etwa soll Benutzer/-innen von Videospielen einen möglichst realistischen Eindruck der Materialität und der Textur virtueller Objekte vermitteln, die Teslasuit lässt sie Schläge, Hitze oder Kälte spüren, und die Apparatur Birdly vermittelt einen körperlichen Eindruck vom Fliegen. Auch der 4D-Film gewinnt an Popularität: Mit der in Südkorea entwickelten Technik des 4DX wird der Kinobesuch durch Windstöße, Gerüche, sich bewegende Sitze und herabfallenden Regen zu einem alle Sinne ansprechenden Erlebnis.

In der Forschung hat sich in den letzten Jahren ein zunehmendes Interesse an körperlichen Erfahrungen sowie an der sinnlichen Dimension der Kunstrezeption herausgebildet. Insbesondere im Kontext des new materialism sowie der Ding-, Materialitäts- und Performativitätstheorien wurde vielfach auf die materialen und sinnlichen Dimensionen unserer Interaktionen mit der Umwelt verwiesen. So setzten sich Hans Ulrich Gumbrecht in seiner einflussreichen Studie Diesseits der Hermeneutik (2004) und Dieter Mersch in Was sich zeigt (2002) kritisch mit der geisteswissenschaftlichen Fokussierung auf Sinnprozesse und der daraus resultierenden Vernachlässigung von Präsenz- und Materialitätsphänomenen auseinander. Im Bereich der Theaterwissenschaften wird insbesondere in den Debatten um den Begriff des Performativen immer wieder auf die sensorische, jenseits der Repräsentativität zu situierende Dimension der Theateraufführung verwiesen – geradezu kanonisch in Erika Fischers-Lichtes wirkungsmächtiger Ästhetik des Performativen (2004). Auch die zentrale Rolle der Materialität für die Literaturproduktion und -rezeption wurde bereits früh herausgestellt (u. a. Roger Chartier, Pratiques de la lecture, 1985). Schließlich hat im 21. Jahrhundert der Terminus der sinnlichen Erfahrung für ästhetische Produktions- wie Rezeptionsprozesse neue Aufmerksamkeit erhalten (Shusterman, Performing Live, 2000; Liebau/Zirfa, Die Sinne und die Künste, 2008).

Jenseits dieser medien- oder fächerspezifischen Einzelstudien fehlt es bislang an Begriffen und Analyseinstrumentarien zur systematischen Untersuchung von multimedialen und multisensorischen Werken: Wie sich die einschlägigen narratologischen, fiktionstheoretischen oder rezeptionsästhetischen Konzepte aus Literatur-, Film-, Kunst- und Medienwissenschaft auf eben solche Phänomene übertragen und sich dabei für künstlerische Inszenierungen im Bereich des Digitalen ausweiten lassen, wurde bislang nur marginal erforscht. Hier möchte der Workshop ansetzen und sich Beispielen multimedialer wie multisensorischer Kunst aus unterschiedlichen disziplinären Perspektiven nähern. Die Spannungen zwischen Multimedialität und Medienspezifik sowie zwischen Sinnlichkeit und Sinnerzeugung werden dabei als konstitutive gestalterische Momente betrachtet. Weder die alleinige Betrachtung des Zusammenspiels der verschiedenen medialen Darbietungsformen noch die Fokussierung auf deren jeweilige Besonderheiten können die Komplexität und das ästhetische Potential der Werke adäquat beschreiben. Weiterhin stellt deren Rezeption einerseits eine sinnliche, sprachlich nur bedingt beschreibbare Erfahrung dar, andererseits werden zugleich auf mehreren Ebenen Sinn und Bedeutung erzeugt.

Mögliche Fragestellungen sind u. a

  • Wie können multimediale und multisensorische Werke analysiert und beschrieben werden?
  • Wie kann durch die sinnliche Dimension erzählt und Bedeutung erzeugt werden?
  • Wie wirken die verschiedenen Medien in den analysierten Werken zusammen und welche Mehrwerte ergeben sich hieraus?
  • Wie verändert sich die Rezeption durch die Inkludierung des Sinnlichen und was bedeutet das für die bestehenden Konzepte und Begriffe?
  • Welche Konsequenzen ergeben sich für den Werkbegriff?