Debatte zur BVerfG-Rspr.

I. BVerfG, Urt. v. 5.5.2020, 2 BvR 859/15 u.a.

www.bverfg.de/e/rs20200505_2bvr085915.htm

II. Kritische Anmerkung von Prof. Dr. Thomas Giegerich, LL.M.

https://jean-monnet-saar.eu/?page_id=2642

III. Entgegnung von Prof. Dr. Christoph Gröpl

Die „Fragen an das Bundesverfassungsgericht“ meines geschätzten Kollegen Thomas Giegerich habe ich mit ebenso großem Interesse gelesen wie das Urteil des 2. Senats des BVerfG vom 5. Mai 2020 in Sachen PSPP (Ankauf von Staatsanleihen). Mir erscheint dabei freilich ein anderes Bild vor den Augen als Thomas Giegerich: nicht die Axt an den Wurzeln der Union des Rechts (vgl. Mt 3,10 u.a.), sondern die Schere des Gärtners, der wilde Triebe am Baum der Union zurückschneidet. Und als ein solch wilder Trieb darf die „Bazooka-Politik“ des „Whatever it takes“ angesehen werden, die die EZB seit rund zehn Jahren verfolgt. Merkwürdig, dass das „Gesicht“ dieser Politik, Mario Draghi, Ende Januar d.J. sogar das Bundesverdienstkreuz (dafür?) erhalten hat. Man darf Italienfreund und sogar ‑liebhaber sein, ohne die Geldpolitik Draghis mögen zu müssen.

Wir beide, Thomas Giegerich und ich, bedauern, dass das Vereinigte Königreich die EU verlässt. Waren es aber nicht auch ähnlich versteckte Umverteilungsmechanismen, die manchen „politisch vernünftigen“ Briten dazu bewogen haben, für den Ausstieg zu stimmen?

Thomas Giegerich beklagt, dass die Ultra-vires-Kontrolle im Urteil vom 5. Mai die „Freunde […] der europäischen Einigung“ wie auch die „Rechts- und Verfassungsstaatlichkeit insgesamt das Fürchten lehre“. Dafür wählt er das geflügelte Wort des „in Europa umgehenden Gespenstes“, mit dem das Kommunistische Manifest von Marx und Engels 1848 beginnt. Angesichts der Dutzenden von Millionen Opfern des Staatskommunismus im 20. Jh. allein in Sowjetrussland, anschließend in der Sowjetunion und in China kann das leicht falsch verstanden werden. Im Übrigen bin ich überzeugt, dass man ein enger „Freund der europäischen Einigung“ sein und das Urteil des 2. Senats gleichwohl begrüßen darf: Es fordert begrenzende Maßstäbe für eine faktisch immer entgrenztere Politik der EZB ein, die mit massenhaften Ankäufen von Staatsanleihen am Sekundärmarkt jongliert, deren Beträge so hoch sind, dass vielen davon nicht einmal mehr schwindelig wird. Auch das, nämlich die Vorgabe nachvollziehbarerer kompetenzieller und anderer rechtlicher Maßstäbe für das Handeln der EZB, deren sich der EuGH bislang verweigert hat, gehört zur „Rechts- und Verfassungsstaatlichkeit“, die wir hochhalten.

Abgesehen davon ist die EU immer noch kein Staat und die EZB deshalb keine staatliche Notenbank. Es fehlt der EU – man mag das bedauern – am Staatsvolk, an der Letztverantwortung des Europäischen Parlaments und an dessen egalitär-demokratischer Legitimation, die in einer „echten“ Demokratie eine Selbstverständlichkeit darstellt und daher auch auf europäischer Ebene nichts mit „deutscher Dominanz“ zu tun haben kann. Solange solche Reflexe aber den Grundsatz des „one man one vote“ verhindern, ist es bis zu einer Föderation mit wirklicher demokratischer Gleichheit aller Bürger noch ein weiter Weg.

Daher lassen sich auch die Erwägungen des Kalkar II-Urteils nicht auf den vorliegenden Fall übertragen: Union und Mitgliedstaaten stehen zueinander eben nicht in einem Verhältnis von Bund und Ländern. Und für die Ausübung der Kompetenzen der Union gegenüber den Mitgliedstaaten schreibt der EU-Vertrag in Art. 5 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 4 das Verhältnismäßigkeits­prinzip ausdrücklich vor.

Natürlich lassen sich Demokratie und Rechtsstaatlichkeit schon jetzt, also im „Staatenverbund“, „üben“, etwa bei der Herstellung eines hinreichend demokratischen Legitimationsniveaus unionaler Organe, Einrichtungen und Stellen. Legitimationsdefizite („Einflussknicke“) müssen anderweit kompensiert werden, namentlich durch strikte Absteckung und Einhaltung von Aufgabenbereichen (BVerfGE 151, 202 [287 ff. Rn. 120 ff., 302 ff. Rn. 157 ff.] – europ. Bankenunion). Gerade hier besteht die offene Flanke der Konstruktion der EZB, wenn sie, insoweit vergleichbar mit einer „unabhängigen Agentur“, unter dem Deckmantel der Währungspolitik eigenständige, ja eigenwillige Wirtschaftspolitik betreibt – und nicht bloß die allgemeine Wirtschaftspolitik in der Union unterstützt, wie es ihr Art. 127 Abs. 1 Satz 2 AEUV erlaubt. (Zudem sind die Mitgliedstaaten in den Strukturen der EZB, auch das darf beiläufig bemerkt werden, nicht nach ihren Kapitalschlüsseln und auch nicht nach dem Gewicht ihrer Volkswirtschaften repräsentiert, was sich auch auf die demokratische Gleichheit der Bürger auswirkt.)

Wie Thomas Giegerich angesichts des Urteils vom 5. Mai, so habe allerdings auch ich ein etwas mulmiges Gefühl bei der ausufernden Verhältnismäßigkeitskontrolle des BVerfG, und zwar generell: Die oft überbordende Prüfung der dritten Stufe der Verhältnismäßigkeit i.w.S., nämlich der Angemessenheit (Verhältnismäßigkeit i.e.S.), scheint eine deutsche Eigenart zu sein. Im Text des Grundgesetzes finden sich erstaunlicherweise noch immer keine Grundlagen dafür. Gleichwohl macht das BVerfG, und hier vor allem der 1. Senat, mit seiner intensiven Angemessenheitskontrolle im Grundrechtsbereich seit Jahrzehnten faktisch Gesellschaftspolitik in Deutschland (die verfassungsgerichtliche Deformation von Art. 6 GG ist nur ein Beispiel dafür). Wer diese Rspr. „innerstaatlich“ als humanistische Wohltat o.Ä. feiert, dem droht argumentative Unwucht, wenn er sie in Bezug auf die EU kritisiert. Denn auch die Ausübung und der Entzug von Kompetenzen wirkt sich auf kurz oder lang im Grundrechtsbereich aus, wie man bei der Geldpolitik der EZB erkennen kann.

Auf Ganze sehe ich das Urteil vom 5. Mai weniger dramatisch und „feierstimmungsverderbend“ als Thomas Giegerich: Wo Macht ist, bedarf es deren Kontrolle. Die EZB hat gehörige, auch wirtschaftspolitische Macht, die vom EuGH bislang nicht hinreichend eingehegt wurde. Insoweit versucht das BVerfG einen Ausgleich, nicht zuletzt im Interesse „nahezu aller Bürger“ Europas, insb. der „Aktionäre, Mieter, Eigentümer von Immobilien, Sparer und Versicherungsnehmer“ (vgl. Rn. 173 des Urteils vom 5. Mai).

Prof. Dr. Christoph Gröpl
Lehrstuhl für Staats- und Verwaltungsrecht,
deutsches und europäisches Finanz- und Steuerrecht

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