Was ist Wissenschaft?

»Indem ich als das Resultat fast zweijähriger Bemühung diese Ausgabe von Schönaichs Neologischem Wörterbuch zum Abschluss bringe, lege ich mir die Frage vor, ob ich die Zeit der Beschäftigung mit meinem Gegenstand als verlorne Zeit betrachten muss, oder ob ich getrost auch Andern zumuten darf, mir zu folgen. Ich frage mich auch, ob ich durch die Sorge um einen so geringfügigen Gegenstand nicht vielleicht ein übles Beispiel gebe, ob der vergessene Freiherr und sein zwar gern citirtes, aber wenig gelesenes Werk es überhaupt wert seien, dass man sich um sie kümmere.
Darauf ist, glaube ich, zu erwidern, dass in aller Wissenschaft an sich kein Ding wichtig oder nichtig sei; erst die Art der Behandlung und Betrachtung macht es dazu. Unter dem Vorbehalt, dass das intensive Studium eines Poeten vierten oder fünften Ranges nicht gleich zur Ueberschätzung seiner Leistungen führen müsse, unter diesem Vorbehalt darf sich unsre Aufmerksamkeit nicht weniger, sondern mehr als bisher diesen Sternen geringer Größe zuwenden

[Albert Köster: Einleitung. In: Christoph Otto Freiherr von Schönaich: Die ganze Aesthetik in einer Nuss oder Neologisches Woerterbuch (1754). Mit Einleitung und Anmerkungen hg. v. Albert Köster. Berlin: 1900, S. I-XXVIII, hier S. I.]

[Max Weber: Wissenschaft als Beruf. Mit einem Nachwort hg. von Friedrich Tenbruck. Stuttgart: Reclam 1995, S. 37-39.]

»[W]as leistet denn nun eigentlich die Wissenschaft Positives für das praktische und persönliche »Leben«? [...] Zunächst natürlich: Kenntnisse über die Technik, wie man das Leben, die äußeren Dinge sowohl wie das Handeln der Menschen, durch Berechnung beherrscht [...]. Zweitens [...]: Methoden des Denkens, das Handwerkszeug und die Schulung dazu. [...] Aber damit ist die Leistung der Wissenschaft glücklicherweise auch noch nicht zu Ende, sondern wir sind in der Lage, Ihnen zu einem Dritten zu verhelfen: zurKlarheit. Vorausgesetzt natürlich, daß wir sie selbst besitzen. Soweit dies der Fall ist, können wir Ihnen deutlich machen: man kann zu dem Wertproblem, um das es sich jeweils handelt [...], praktisch die und die verschiedene Stellung einnehmen. Wenn man die und die Stellung einnimmt, so muß man nach den Erfahrungen der Wissenschaft die und die Mittel anwenden, um sie praktisch zur Durchführung zu bringen. Diese Mittel sind nun vielleicht schon an sich solche, die Sie ablehnen zu müssen glauben. Dann muß man zwischen dem Zweck und den unvermeidlichen Mitteln eben wählen. »Heiligt« der Zweck diese Mittel oder nicht? Der Lehrer kann die Notwendigkeit dieser Wahl vor Sie hinstellen, mehr kann er, solange er Lehrer bleiben und nicht Demagoge werden will, nicht. Er kann Ihnen ferner natürlich sagen: wenn Sie den und den Zweck wollen, dann müssen Sie die und die Nebenerfolge, die dann erfahrungsgemäß eintreten, mit in Kauf nehmen: wieder die gleiche Lage. [...]
Und damit erst gelangen wir zu der letzten Leistung, welche die Wissenschaft als solche im Dienste der Klarheit vollbringen kann, und zugleich zu ihren Grenzen: wir können – und sollen – Ihnen auch sagen: die und die praktische Stellungnahme läßt sich mit innerer Konsequenz und also: Ehrlichkeit ihrem Sinn nach ableiten aus der und der letzten weltanschauungsmäßigen Grundposition – es kann sein, aus nur einer, oder es können vielleicht verschiedene sein –, aber aus den und den anderen nicht. Ihr dient, bildlich geredet, diesem Gott und kränkt jenen anderen, wenn Ihr Euch für diese Stellungnahme entschließt. Denn ihr kommt notwendig zu diesen und diesen letzten inneren sinnhaften Konsequenzen, wenn Ihr Euch treu bleibt. Das läßt sich, im Prinzip wenigstens, leisten. Die Fachdisziplin der Philosophie und die dem Wesen nach philosophischen prinzipiellen Erörterungen der Einzeldisziplinen versuchen, das zu leisten. Wir können so, wenn wir unsere Sache verstehen (was hier einmal vorausgesetzt werden muß), den Einzelnen nötigen, oder wenigstens ihm dabei helfen, sich selbst Rechenschaft zu geben über den letzten Sinn seines eigenen Tuns. Es scheint mir das nicht so sehr wenig zu sein, auch für das rein persönliche Leben. Ich bin auch hier versucht, wenn einem Lehrer das gelingt, zu sagen: er stehe im Dienst »sittlicher« Mächte: der Pflicht, Klarheit und Verantwortungsgefühl zu schaffen, und ich glaube, er wird dieser Leistung um so eher fähig sein, je gewissenhafter er es vermeidet, seinerseits dem Zuhörer eine Stellungnahme oktroyieren oder suggerieren zu wollen.«

»Nur durch strenge Spezialisierung kann der wissenschaftliche Arbeiter tatsächlich das Vollgefühl, einmal und vielleicht nie wieder im Leben, sich zu eigen machen: hier habe ich etwas geleistet, was dauern wird. Eine wirklich endgültige und tüchtige Leistung ist heute stets: eine spezialistische Leistung. Und wer also nicht die Fähigkeit besitzt, sich einmal sozusagen Scheuklappen anzuziehen und sich hineinzusteigern in die Vorstellung, daß das Schicksal seiner Seele davon abhängt: ob er diese, gerade diese Konjektur an dieser Stelle dieser Handschrift richtig macht, der bleibe der Wissenschaft nur ja fern. Niemals wird er in sich das durchmachen, was man das »Erlebnis« der Wissenschaft nennen kann. Ohne diesen seltsamen, von jedem Draußenstehenden belächelten Rausch, diese Leidenschaft, dieses: »Jahrtausende mußten vergehen, ehe du ins Leben tratest, und andere Jahrtausende warten schweigend«: – darauf, ob dir diese Konjektur gelingt, hat einer den Beruf zur Wissenschaft nicht und tue etwas anderes«.

[Max Weber: Wissenschaft als Beruf. Mit einem Nachwort hg. von Friedrich Tenbruck. Stuttgart: Reclam 1995, S. 12.]