Marlen Wagner, M.A.

Marlen Wagner, M.A.

Der verlorene Sohn im Bibeldrama der Reformationszeit

Die biblische Parabel vom verlorenen Sohn hat in der Literatur der Frühen Neuzeit einen bemerkenswerten Niederschlag gefunden. Im 16. Jahrhundert wird der beliebte neutestamentliche Stoff von einer breiten Autorenschaft aufgegriffen und für ihre jeweiligen Zwecke modifiziert. Das bevorzugte Genre für die Adaptation der Parabel ist das Bibeldrama, das neben Predigt und Kirchenlied das wirkmächtigste Medium zur Vermittlung dogmatischer, sittlicher und kirchenpolitischer Lehren darstellt. Die Reformatoren selbst  befürworten die Dramatisierung von Bibelpassagen, insofern sie der humanistischen Schulbildung und der protestantischen Unterweisung der Gemeinde dienen. Dementsprechend alludieren die Dramentexte vom verlorenen Sohn sowohl auf zeitgenössische, kontroverstheologische Spannungen als auch auf sittlich-pädagogische Überzeugungen.

Ziel der Untersuchung ist es, die stoffliche Verarbeitung des verlorenen Sohnes in den Dramen des 16. Jahrhunderts aufzuzeigen und zu untersuchen, inwiefern sich der biblische Prätext in der dramatischen Bearbeitung widerspiegelt. Ausgehend von der Beobachtung, dass mit der Überführung einer Bibelpassage in einen Dramentext ein Gattungs- und Medienwechsel einhergeht, untersucht die Studie die Manifestationen und Konsequenzen dieses Transformationsprozesses im Blick auf die dramentechnische Gestaltung der Bühnenstücke: auf der Ebene der Figuren, der dramatischen Kommunikation, der Handlung, der Raum- und Zeitstruktur.

Zweifellos haben die Bibeldramen immer auch ein propagandistisches Element und verändern damit den Prätext. Folglich ist die systematische Darstellung der im jeweiligen Dramentext hervorgehobenen konfessionellen Position (Reformation/Gegenreformation) ein zentrales Anliegen der Studie. In diesem Zusammenhang sind auch die grundlegenden Fragen nach Luthers Übersetzung von Lk 15,11-32 und nach der Auslegungstradition der lukanischen Parabel bei den Patriarchen und den Reformatoren zu beantworten.