Dekoloniales Denken zwischen Identität und Differenz im Tunesien der 1960er Jahre
Für eine tiefergehende Analyse verschiedener Konzeptionen von Universalität, Identität und Differenz ist die Phase der Dekolonialisierung zentral: Es handelt sich sowohl um eine Periode politischer Befreiung und Emanzipation von europäisch-universalistischen Ansprüchen als auch damit einhergehend um die Gründungsphase neuer Nationen und die Konstruktion eigener nationaler Identitäten – oft unter Ausschluss minoritärer Gesellschaftsgruppen.
Der tunesische Philosoph, Soziologe und Schriftsteller Albert Memmi erlebte und beeinflusste eine Reihe soziopolitischer Umbrüche des 20. Jahrhunderts, zu denen auch die Dekolonialisierungsprozesse gehörten. Sein Denken ist unmittelbar durch seine Erfahrungen im mediterranen Raum, konkret in Tunesien, geprägt. Durch sein Werk, in dem er sich mit vielen großen Themen wie dem Verhältnis von Kolonisator und Kolonisierten, Dominanz und Abhängigkeit, Rassismus und Religion beschäftigte, zieht sich die Frage nach zersplitterter Identität und der Rolle von Differenzen in der Konstruktion zwischenmenschlicher Beziehungen wie ein roter Faden. Memmi war nicht nur Kolonisierter; durch sein Jüdischsein gehörte er zudem einer gesellschaftlichen Minorität an. Zwischen Frankreich und Tunesien bewegte er sich stets in einem unauflösbaren multipolaren Spannungsfeld.
Vor dem theoretischen Hintergrund von Memmis dialektisch aufgebauten Porträts minoritärer und dominierter Gruppen als gesellschaftsanalytischem Kristallisationspunkt seines Werks sollen in dieser Arbeit weitere tunesische Stimmen aus dem panarabischen, traditionell-islamischen sowie feministischen Feld aus der Zeit der Dekolonialisierung näher beleuchtet werden. Ausgehend von einem mikrohistorischen Ansatz sollen ebendiese Persönlichkeiten und ihre Positionierungen innerhalb des damaligen gesellschaftlichen Dominanzgefüges, das über das Verhältnis von Kolonisator und Kolonisierten hinausging, in ihrer Komplexität dargestellt und analysiert werden. Wie werden von diesen Akteur:innen zur Zeit der Dekolonialisierung Freiheit, Gerechtigkeit und das Projekt der Moderne gedacht? Wie wird das Universelle ausgehend von diesen individuellen Fällen jenseits von Großerzählungen konzipiert? Inwiefern wird aus den soziopolitischen Konstellationen im Tunesien der 1960er Jahre eine Vielschichtigkeit der Geschichte der Befreiungskämpfe lesbar? In welcher Form lässt sich eine unmittelbare Bezüglichkeit dieser gesellschaftlichen Aushandlungsprozesse zwischen Identitäts- und Differenzdenken zu den aktuell in den europäischen Gesellschaften geführten Debatten beobachten?
Dieser nach den feinen Unterschieden und Zwischentönen innerhalb des dekolonialen Denkens fragende Ansatz setzt sich damit nicht zuletzt kritisch mit den auf beiden Seiten des Mittelmeers wiedererstarkenden nationalen Großerzählungen und identitären Obsessionen auseinander, denen sich auch das Projekt Europa stellen muss.