Das Wiegenlied als Kunstlied im langen 19. Jahrhundert – Zwischen Funktionalität und Stilisierung

Franziska Weigert (Universität Regensburg)

Abend für Abend spielt sich in Familien dasselbe Ritual ab: das Zu-Bett-Bringen der Kinder. Geprägt von Versuch und Scheitern entwickeln Eltern speziell auf die Bedürfnisse ihrer Kinder abgestimmte Rituale, die oft im Vorsingen von Wiegenliedern münden. Wiegenlieder haben eine lange, gesellschafts- und kulturübergreifende Tradition. Verglichen mit anderen musikalischen Gattungen bringen sie ein ungewöhnlich hohes Maß an Universalität mit, was sie zu einer staunenswerten Liedform macht. Während es in der Klassik noch vergleichsweise wenig Wiegenlied-Kompositionen gibt, erfährt die Gattung im langen 19. Jahrhundert einen neuen Impuls. Johann Friedrich Reichardt holte 1798 das Wiegenlied aus seinem Dornröschenschlaf und setzte mit der Sammlung "Wiegenlieder für gute deutsche Mütter" den Beginn eines über 100 Jahre anhaltenden Trends, Wiegenlieder als Kunstlieder zu komponieren. Diese regelrechte „Wiegenliedflut“ führte zu einer umfangreichen Stilisierung der Gattung und damit einhergehend einem partiellen Abrücken von ihrer ursprünglich inhärenten Funktionalität. Musikalisch sind die Kunst-Wiegenlieder in Anlehnung an ihr Volkslied-Pendant auffällig schlicht gehalten: Dur, Repetition, Konsonanz, einfache Harmonik und binäre Rhythmik prägen das Bild. Im Abgleich mit musikpsychologischen Ergebnissen wird ersichtlich, dass die Komponist:innen (u.a. J. Brahms, M. Reger, F. Schubert, L. Greger, W. Taubert) damit einschlaffördernde Mittel gewählt haben. Mit der „Entdeckung der Kindheit“ (Ariés 1978) ging auch eine Stilisierung der Kinderwelt einher und so schöpften die Dichter:innen literarisch aus einer Reihe von Motiven, die der Kinderwelt zugeordnet wurden: Engel, Sandmann, Natur bei Nacht, schläfrige Schäfchen und Blumen. Auch die neu betonten Geschlechterrollen des Bürgertums spiegeln sich in den Wiegenlied-Texten wider. Sie erzählen überwiegend aus der Perspektive einer „guten Mutter“, während Väter in diesem Kontext kaum eine Rolle spielen (Frevert 1986; Budde 1994). In meinem Vortrag werde ich beleuchten, wie Wiegenlieder gestaltet sind und inwiefern sie sich in dieser Zeit mehr denn je im Spannungsfeld zwischen Funktionalität und Stilisierung befinden.

 

Franziska Weigert promoviert an der Universität Regensburg zu Wiegenliedern im langen 19. Jahrhundert. Am dortigen Institut für Musikwissenschaft war sie von 2020 – 2022 als Wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig. Seit 2018 ist sie als Hilfskraft an den Liededitionen der Forschungsstelle Richard-Strauss-Ausgabe (LMU München) beteiligt. In der ersten Jahreshälfte von 2023 war sie Gastwissenschaftlerin am Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik (Frankfurt a. M.).