Rezeption und kompositorische Praxis des chromatischen Totals im 20. Jahrhundert am Beispiel Nikolaj Obuchovs

Jackob Uhlig M. A. (Phillips-Universität Marburg)

Als zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum ersten Mal Informationen über Arnold Schönbergs Methode des „Komponierens mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen“ bekannt wurden, entfachte schnell eine Debatte darüber, ob Schönberg tatsächlich der „Erfinder“ jener Technik sei oder ob ihm nicht andere Persönlichkeiten zuvorgekommen seien. Besonders in den ersten Nachkriegsjahrzehnten führten viele von Musikwissenschaftlerinnen und Musikpublizistinnen weitere entdeckte Komponist*innen schließlich zu einem gängigen Geschichtsnarrativ, in dem die Frage nach der zeitlichen Priorität zunehmend obsoleter wurden und in dem die Entwicklung der Zwölftonmusik vielmehr als Ergebnis einer allgemeinen kompositorischen Tendenz zu Beginn des 20. Jahrhunderts beschrieben wurde, die parallel über zahlreiche Köpfe verlief. Dem hier vorgestellten Dissertationsprojekt liegt die These zugrunde, dass die in diesem Kontext diskutierten Komponisten und Werke vor allem über den kompositorischen Topos des chromatischen Totals in einen Topf geworfen werden. Dieses Differenzierungskriterium erweist sich für eine Kategorisierung von Stücken dabei nicht nur als vergleichsweise marginaler Bezugspunkt, es sorgt obendrein dafür, dass die betreffenden Stücke auf eine historisch verfälschende Art und Weise betrachtet werden. Notwendig wird es daher, das chromatische Total als isoliertes Phänomen zu untersuchen und zu fragen, warum speziell diese Kategorie einer Tonkonstellation im 20. Jahrhundert einer regelrechten Mystifizierung unterzogen und zu einem Symbol für kompositorische Innovation wurde. Herangezogen werden dabei verschiedene Rezeptionsquellen, die auch unabhängig von der Wiener Schule gängige Interpretationsschemata des chromatischen Totals offenbaren. Die Arbeit richtet dabei ein spezielles Augenmerk auf den russischen Komponisten Nikolaj Obuchov, dessen Gesamtwerk schon seit Mitte der 1910er Jahre stark von der Anwendung des chromatischen Totals geprägt ist. Obuchovs sogenannte „absolute Harmonie“ basiert dabei einerseits auf einem in diesem Kontext ungewöhnlichen Konzept der Repräsentation menschlicher Emotionen, offenbart aber anderseits auch Muster der Rezeption und sogar der späteren Uminterpretation des eigenen Werks, die für generelle Tendenzen in der Betrachtung des chromatischen Totals als evident gelten können.

 

Jakob Uhlig studierte Historische und Systematische Musikwissenschaft in Hamburg. 2021 schloss er seinen Master mit einer Arbeit über den Alban-Berg-Schüler Fritz Heinrich Klein ab. Seit 2022 ist er Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Philipps-Universität Marburg, wo er über Rezeption und kompositorische Praxis des chromatischen Totals im 20. Jahrhundert am Beispiel des russischen Komponisten Nikolaj Obuchovs promoviert. Seine Forschungsinteressen gelten primär der Musikgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts, Darstellungs- und Vermittlungsstrategien von Komponist*innen, der Rezeptionsgeschichte der Zwölftonmusik der Wiener Schule und der musikalischen Analyse. Jakob Uhlig ist Vorsitzender des Dachverbands der Studierenden der Musikwissenschaften. In dieser Funktion organisierte er 2021 unter anderem das Nachwuchssymposium "Musikwissenschaftliche und musikalische 'Schulen'? Strukturen, Analyse, Dynamiken" und gründete mit dem Magazin StiMMe die erste musikwissenschaftliche Fachzeitschrift im deutschsprachigen Raum, die ausschließlich Aufsätze von Studierenden und Promovierenden publiziert. Neben seinen wissenschaftlichen Tätigkeiten ist Jakob Uhlig auch als freier Musikjournalist tätig. In dieser Rolle veröffentlichte er zahlreiche Texte, Podcasts und Videobeiträge, die hauptsächlich von den verschiedensten Spielarten der Popularmusik handeln.