Traum und Biopolitik. Subjekt und Macht in Salvatore Sciarrinos Musiktheater

Dr. Mauro Fosco Bertola (Universität Tübingen, Musikwissenschaftliches Seminar)

In den letzten Jahrzehnten hat sich der italienische Komponist Salvatore Sciarrino zu einer der führenden Persönlichkeiten der zeitgenössischen Opernszene in Europa entwickelt. Wie Susan McClary hervorgehoben hat, steht Sciarrino für eine neue Art von Musiktheater, das „sein posttonales Idiom vermenschlicht und seine Kraft für das Publikum verständlich macht“ (McClary 2015: 22). Auch David Metzer hebt Sciarrino als treffendes Beispiel für die Fluidität hervor, welche die Musik an der Wende zum 21. Jahrhundert erreicht hat (Metzer 2009: 101–103).  Indem Sciarrino mit der gesamten Musiktradition in Dialog tritt und ihre Ausdruckskraft neu artikuliert, greift er im Einklang mit der jüngeren Musikproduktion an jene Kategorie des Subjekts zurück, die die Avantgarden vor allem nach 1945 für endgültig beendet erklärt hatten. Letztlich gelingt es Sciarrino durch einen fließenderen Umgang mit der Avantgarde und der Operngattung, das Musiktheater zu seinen Monteverdi‘schen Wurzeln zurückzuführen: Die Oper wird wieder zu einem privilegierten Mittel, um menschliche Leidenschaften und ihre psychologischen Verwicklungen auszudrücken. Dennoch, welche Art von Subjekt kehrt hier zurück, und in welchem Sinne? Wer oder was wird durch diese Musik ausgedrückt, und zu welchem Zweck?

In meinem Beitrag möchte ich diese Fragen angehen, indem ich mich Sciarrinos Musiktheater aus der Perspektive des Traums nähere. Anhand einiger Werken, die Sciarrino im Laufe seiner Karriere komponiert hat, werde ich aufzeigen, wie der Komponist den Schwerpunkt seines Musiktheaters schrittweise verlagert hat. Wenn seine frühen Werke unter dem Vorzeichen einer Lacan‘sche Subjektivität standen, die mittels des Traums artikuliert wurde (z.B. Lohengrin, 1984), nimmt der Traum in seiner späteren musiktheatralischen Produktion eine primär soziopolitische Funktion an. Anstelle eines Subjekts tritt hier mittels des Traums und der Ausdruckskraft von Sciarrinos Musik jene Zone der Unentscheidbarkeit in den Vordergrund, die der zeitgenössische italienische Philosoph Giorgio Agamben als bestimmendes Element des westlichen Diskurses über Souveränität und ihre biopolitischen Implikationen hervorgehoben hat.

 

Nach einem Magister in Philosophie über Nicolas Malebranche (Universität von Ost-Piemont, Italien) studierte Mauro Fosco Bertola Musikwissenschaft in Heidelberg. 2012 wurde er bei Prof. Dr. Silke Leopold promoviert (Die List der Vergangenheit, Böhlau, 2014). Er war Stipendiat des Deutschen Historischen Instituts in Rom, der Landesgraduiertenförderung Baden-Württemberg, des Richard-Wagner-Verbandes und der Paul Sacher Stiftung Basel. Er war wissenschaftlicher Mitarbeiter am Musikwissenschaftlichen Seminar der Universität Heidelberg (2012–17), Postdoktorand am DFG-Graduiertenkolleg »Europäische Traumkulturen« an der Universität des Saarlandes (2017-19) und Lektor für Zeitgenössische Musik bei Breitkopf & Härtel (2021). Seit Februar 2022 leitet er das DFG-Projekt „Der Traum im europäischen Musiktheater der Gegenwart: K. Saariaho, S. Sciarrino, O. Neuwirth“ am Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Tübingen.
Er ist der Mitherausgeber von Žižek and Music (International Journal of Žižek Studies, 2017) und von An den Rändern des Lebens. Träume vom Sterben und Geborenwerden in den Künsten (Fink 2019) sowie der Herausgeber von The Sound of Žižek. Musicological Perspectives on Slavoj Žižek (Lang 2023).