Typikalität und Kontrastwahrnehmung in Sinfoniesätzen des 19. Jahrhunderts

Prof. Dr. Clemens Wöllner, Geoffrey McDonald M. A. (Hochschule für Musik Freiburg)

Prototypen, die sich durch mittlere Eigenschaften auszeichnen, werden in verschiedenen Wahrnehmungsfeldern ästhetisch bevorzugt. Auch in der Musik wird die mittlere zeitliche Gestaltung romantischer Musik besser bewertet, ebenso wie visuell gemittelte Dirigierbewegungen einen klareren Schlag erkennen lassen. Inwieweit lassen sich Prototypen auch für die Formgestaltung von Sinfonien im späten 19. Jahrhundert ausmachen – einem Genre, das noch mit dem Erbe Beethovens rang als gleichzeitig auch mit Innovation, Originalität und Subjektivität assoziiert wurde? Insbesondere interessierten uns die Übergänge hin zum langsamen Satz für Beispiele aus dem „zweiten Zeitalter der Sinfonie“ (Dahlhaus, 1980). In einem Hörexperiment untersuchten wir 16 Sinfonieexzerpte und baten erfahrene Hörende, die Musik hinsichtlich Typikalität, Kontrast zwischen den Sätzen, Valenz, Aktivierung sowie subjektivem Gefallen und Bekanntheit zu beurteilen. Die Übergänge zwischen langsamem und vorangehendem Satz wurden besonders bei den Bruckner-Sinfonien und Dvořáks 9. als sehr kontrastreich bewertet und weniger kontrastreich bei Brahms‘ 4. und Tschaikowskys 5. Je stärker der Kontrast, desto typischer erschienen die Übergänge, unabhängig von Bekanntheit oder Gefallen. Die Ergebnisse ergänzen eine frühere Korpusanalyse, in denen sich vor allem die Sinfonien Bruckners bestimmten Beethovenschen Clustern oder Prototypen zuordnen lassen. Der Kontrast zwischen den Sätzen scheint dabei für viele Sinfonien, trotz bemerkenswerter Ausnahmen, ein wesentliches Formelement zu sein.

 

Clemens Wöllner ist Professor für Systematische Musikwissenschaft an der Hochschule für Musik Freiburg. Zuvor von 2013-2022 Professor für Systematische Musikwissenschaft an der Universität Hamburg und Principal Investigator im ERC-Projekt "Slow Motion: Transformations of Musical Time in Perception and Performance". Präsident der Deutschen Gesellschaft für Musikpsychologie (DGM). Mitglied in mehreren Zeitschriften-Beiräten.