Zwischen Stadt und Nation. Die urbane Musikkultur von Tiflis/Tbilissi um 1900

Jonas Löffler (Universität zu Köln)

Tiflis, die heutige georgische Hauptstadt Tbilissi, war um 1900 das multiethnisch-kolonial geprägte politische und kulturelle Zentrum des Südkaukasus – zahlreiche lokale ethnische Gruppen, unter anderem Armenier, Georgier, turksprachige Muslime (Aseris) und Perser standen unter der kolonialistisch geprägten Verwaltung des russischen Zaren, der seit Anfang des 19. Jahrhunderts den Südkaukasus beherrschte. Vor der russischen Eroberung der Region befand diese sich über Jahrhunderte im persischen Einflussbereich, was sich auch in der alltäglichen, urbanen Musikkultur von Tiflis widerspiegelte. Religiöse Feste, öffentliche und private Feiern aller Gesellschaftsschichten sowie Feierlichkeiten in Tavernen und Kaffeehäusern wurden fast ausnahmslos von einer Musik begleitet, die ihre Wurzeln in der Musikkultur der „Persianate World“ – des Einflussraums der persischen Kultur zwischen Balkan und Süd- und Zentralasian – hatte und meist auf Instrumenten wie Tar, Santur, Kamancheh, Zurna, Duduk, Daf oder Daira gespielt wurde. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts geriet die urbane Musik von Tiflis jedoch zunehmend unter Beschuss, sei es in Form offizieller Sanktionen, die die Aufführung bestimmter Musikarten im öffentlichen Raum verboten, oder in Form elitärer und nationalistischer Diskurse, die den geringen Stellenwert betonten und ihre Hybridität gegenüber westlicher Kunstmusik oder nichtstädtischer, "nationaler" Folkloremusik beklagten. Aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einem transkulturellen musikalischen Kontinuum, das von der russischen Obrigkeit und großen Teilen der lokalen Eliten weithin als "unzivilisiert" und "asiatisch" wahrgenommen wurde, kollidierte sie sowohl mit der Vorstellung von Musik als „zivilisatorischem Geschenk“, das von der Obrigkeit postuliert wurde, als auch mit der Idee einer einzigartigen, national definierten Musikkultur, die zunehmend von den jeweiligen lokalen Eliten gefordert wurde. Unter Einbezug georgisch-, armenisch- und russischsprachiger Quellen verfolgt dieses Referat die Debatten um die urbane Musik von Tiflis um 1900 und konzentriert sich dabei auf die Konflikte, die um Fragen der städtischen und ethnischen Identität, „Hoch-“ und „Unterhaltungskultur“ sowie der Nation entstanden.

 

Jonas Löffler ist Doktorand am musikwissenschaftlichen Institut der Universität zu Köln. Er war Promotionsstipendiat der Studienstiftung des deutschen Volkes und ist Mitglied der a.r.t.e.s. Graduate School for the Humanities Cologne. Nach einem Studium der klassischen Gitarre an der Hochschule für Musik Basel (BA und MA) studierte er Musikwissenschaft an der Universität Basel (BA) sowie an der Universität Oxford (MSt). In Oxford erhielt er das Clarendon Scholarship sowie ein Jahresstipendium des DAAD. Neben seiner wissenschaftlichen Tätigkeit arbeitet er als Übersetzer aus dem Georgischen und hat u.a. eine Sammlung von Kurzgeschichten für Georgischlernende und eine Übersetzung der georgischen futuristisch-dadaistischen Zeitschrift “H2SO4” veröffentlicht.