Examensrelevant

Unter der Rubrik examensrelevante Rechtsprechung wollen wir in Zukunft auf aktuelle Entscheidungen des Bundesgerichtshofs aufmerksam machen. Diese werden nur äußerst knapp zusammengefasst (meist beschränkt sich der Text auf Leit- und redaktionelle Orientierungssätze), um Interessierte zur Lektüre der Entscheidungsgründe und/oder der dazugehörigen Anmerkungen zu motivieren. Es handelt sich um Urteile/Beschlüsse, die aufgrund der behandelten Themen oder einschlägigen Rechtsvorschriften nach unserer Einschätzung für das Erste Staatsexamen von Relevanz sein könnten (überwiegend also Entscheidungen, welche die Auslegung des materiellen Strafrechts und die Vorschriften der StPO betreffen). Dieser zusätzliche "Service" tritt neben das hervorragende Angebot "Montagspost" der Saarbrücker Rechtsinformatik, welche den Abonnenten die Möglichkeit eröffnet, sich BGH-Entscheidungen, zugeschnitten auf individuelle Interessen, zukommen zu lassen.
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Examensrelevante Rechtsprechung – Juni 2023 Wiss. Mit. Fatih-Anil Uzun
Freiwilligkeit beim Rücktritt (innere Hemmung) (BGH, Beschl. v. 14.02.2023 – 4 StR 442/22)
Wieder einmal hebt der BGH ein Urteil auf, weil der Senat die instanzgerichtlichen Ausführungen zum Rücktritt vom Versuch nicht für ausreichend hält. In dem zu entscheidenden Fall ging es um einen Angeklagten (A), der mit einer Machete und bedingtem Tötungsvorsatz mehrfach auf die Geschädigte (G) einstach. Das laute Anflehen der G hinderte den A zunächst nicht daran, weiterzumachen. Erst als die G den A auf ihren Sohn aufmerksam machte, wurde der A aus seinem affektiven Erregungszustand herausgerissen. Aufgrund psychischer Hemmungen sah sich A nicht mehr in der Lage, auf die Geschädigte einzustechen, sodass er von ihr abließ. Die entscheidende Frage hierbei – mit der man sich auch in der Klausur auseinanderzusetzen hat – ist, ob A gem. § 24 Abs. 1 S. 1 Var. 1 StGB freiwilligvom versuchten Totschlag (§§ 212 I, 22 StGB) zurückgetreten ist. Dabei kann auch eine durch innere Vorgänge bewirkte Zwangslage einem heteronomen Rücktrittsentschluss entgegenstehen. Allerdings ist es widersprüchlich, eine Freiwilligkeit zu verneinen, wenn zugleich festgestellt ist, dass der Entschluss des Täters gerade nach Beendigung des affektiven Gemütszustands gefasst wurde.
Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte (BGH, Beschl. v. 09.11.2022 – 4 StR 272/22)
Der Angeklagte (A) flüchtete mit seinem Fahrzeug vor einer Polizeikontrolle. Während seiner Flucht geriet der A auf eine Straße, die sich zu einem schmalen Feldweg verengte. Am Ende des Weges musste er anhalten, weil Betonsteine die Weiterfahrt verhinderten. Als einer der Polizeibeamten die Beifahrertür des Dienstfahrzeugs öffnete, um auszusteigen und auf A zuzugehen, setzte der A seinen Pkw zurück, um erneut der Kontrolle zu entgehen. Dabei touchierte der A mit seinem Fahrzeug die geöffnete Beifahrertür. Dem Polizeibeamten gelang es gerade noch rechtzeitig, seinen Fuß wieder zurück ins Fahrzeug zu bringen, bevor die Beifahrertür durch den Anstoß zuschlug. Der BGH bestätigt die Auffassung der Vorinstanz, wonach die Widerstandshandlung nicht unmittelbar gegen den Beamten gerichtet sein brauche. Es genüge vielmehr auch eine nur mittelbar gegen die Person des Beamten, unmittelbar aber gegen Sachen gerichtete Einwirkung, wenn sie nur von dem Beamten körperlich empfunden wird. Daher sei die Verwirklichung des objektiven Tatbestandes des § 113 Abs. 1 StGB zu bejahen.
Betrug durch AGG-Hopping (BGH, Beschl. v. 04.05.2022 – 1 StR 3/21 m Anm Kudlich/Oğlakcıoğlu JR 2023, 292)
In diesem Beschluss stellt der BGH die Voraussetzungen auf, die eine Strafbarkeit bei vorgespiegelten Bewerbungen auf diskriminierende Stellenangebote zur Erlangung von Entschädigungsansprüchen (sog. AGG-Hopping) begründen können. In der Geltendmachung einer Forderung, auf die kein Anspruch besteht, könne eine schlüssige Täuschung über Tatsachen liegen. Die Annahme einer schlüssigen Täuschung setze aber voraus, dass mit dem Einfordern einer Leistung ein Bezug zu einer unzutreffenden Tatsachenbasis hergestellt oder das Vorliegen eines den Anspruch begründenden Sachverhalts behauptet wird. Jedenfalls im Versenden von außergerichtlichen Aufforderungsschreiben könne noch keine (konkludente) Täuschung über die fehlende subjektive Ernsthaftigkeit der Bewerbung gesehen werden.
Examensrelevante Rechtsprechung – Mai 2023 Wiss. Hk. Benedikt M. Müller, LL.M. (Oslo)
Zur Wegnahme von leicht beweglichen Gegenständen (BGH, Urt. v. 4.5.2022 – 6 StR 628/21, NStZ 2023, 237)
Die zwei Angeklagte drangen in die in einem Mehrparteienhaus gelegene Wohnung des Geschädigten ein und entwendeten ihm, unter Zufügung von Schlägen mit einem Quarzsandhandschuh, einen mit Betäubungsmitteln gefüllten Rucksack. Durch laute Hilferufe aufmerksam gemachten Nachbarn gelang es im Hausflur beide Täter vor ihrer Flucht aus dem Gebäudes zu stellen und festzuhalten. Spätestens indem der Angeklagte mit dem Rucksack die Wohnung, nicht aber das Gebäude verlies, sah der BGH entgegen dem erstinstanzlichen Gericht eine vollendete Wegnahme und damit nicht „nur“ den versuchten besonders schweren Raubes gem. §§ 249 Abs. 1, 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB (sowie § 30a Abs. 2 Nr. 2 BtMG) verwirklicht. Der erforderliche Gewahrsamsbruch und -wechsel sei nach den Anschauungen des täglichen Lebens bei leicht beweglichen Sachen schon mit Ergreifen und Festhalten, bzw. dem offenen Wegtragen, spätestens aber mit dem Verlassen des umschlossenen Herrschaftsbereiches des bisherigen Gewahrsamsinhaber (hier: dessen Wohnung, nicht des Hauses) vollzogen. Eine Beobachtung oder sogar die anschließende Verhinderung der endgültigen Zueignung stehen dieser Betrachtung nicht entgegen.
Geschickte Einbrecher oder ungeschickte Urteilsbegründung? (BGH, Beschl. v. 25.10.2022 – 2 StR 296/22, NStZ-RR 2023, 78)
Für ein Eindringen im Sinne des § 244 Abs. 1 Nr. 3 StGB ist erforderlich, dass der Täter ein nicht zur ordnungsgemäßen Öffnung des Wohngebäude bestimmtes Werkzeug (oder falschen Schlüssel) zur Überwindung des Verschlusses verwendet. Gelingt es dem Täter dagegen ohne ein solches Werkzeugs über den nah an der Tür angebrachten Briefkastenschlitz die Tür zu öffnen (freilich schwer vorstellbar; das Fachgericht hat diesbezüglich aber keine Feststellungen getroffen und seine Entscheidung damit revisibel gemacht), erfülle dies nicht den Qualifikationstatbestand des Wohnungseinbruchsdiebstahls.
Pflicht und Ausnahmen zur elektronischen Übermittlung einer Revisionsbegründung (BGH, Beschl. v. 7.12.2022 – 2 StR 140/22, NStZ-RR 2023, 115)
In der Praxis inzwischen angekommen, dürfte die seit dem 1.1.2022 für Rechtsanwälte geltende (gestufte) Verpflichtung aus § 32d S. 1 und 2 StPO, bestimmte Schriftsätze als elektronische Dokumente zu übermitteln (vgl. auch § 32a StPO und § 31a BRAO), im rechtswissenschaftlichen Studium eher ein Schattendasein fristen. Für eine mündliche Prüfung indes, lassen sich hieraus mit einfachsten Mitteln Kenntnisse über eine ganz alltägliche juristische Tätigkeiten abfragen: Das Versenden von Schriftstücken. Für Anwälte die sich nicht von der Übermittlung in Papierform verabschieden wollen, stellte der BGH nun fest: Ein Verteidiger muss, um sich auf die Ausnahme aus § 32d S. 3 StPO berufen zu können, eine vorübergehende technische Unmöglichkeit der elektronischen Übermittlung glaubhaft machen. Daran fehlt es, wenn schon kein geeignetes System hierzu vorgehalten oder nicht umgehend für die Behebung der technischen Probleme gesorgt wird. Entsprechend eingelegte Schriftstücke (hier die Revisionsbegründung) gelten als nicht formgerecht eingelegt und bleiben damit unberücksichtigt.
Examensrelevante Rechtsprechung – April 2023 Wiss. Mit. und RA Dr. Kai-Daniel Weil
Freiwilligkeit beim Rücktritt (BGH, Beschl. v. 21.09.2022 – 6 StR 332/22, NStZ 2023, 156)
Gegenstand dieser Entscheidung war eine Frage, mit welcher Studierende frühzeitig im Rahmen ihrer (straf- )rechtlichen Ausbildung konfrontiert werden: Die Freiwilligkeit beim Rücktritt vom Versuch. Der Ange- klagte (im Folgenden: A) stach mit einem Messer in Richtung des Halses des Geschädigten (im Folgenden: G), um diesen zu verletzen sowie in dem Bewusstsein tödlicher Folgen. Dies war ihm jedoch gleichgültig. Da G allerdings ausweichen konnte, wurde er lediglich am Arm und Brustkorb getroffen. A wurde sodann von seinen Begleitern weggezogen, bedrohte G indes noch mit den Worten: „Das nächste Mal gibt es Tod.“ Unter lehrbuchartiger Anwendung der dogmatischen Grundsätze kam der BGH zu folgendem Ergebnis: „Der Annahme von Freiwilligkeit iSd § 24 Abs. 1 StGB steht es nicht [...] entgegen, dass der Anstoß zum Umdenken von außen kommt oder die Abstandnahme von der Tat erst nach dem Einwirken eines Dritten erfolgt. Entscheidend ist vielmehr, ob der Täter nach seinem Vorstellungsbild noch weitere Ausführungshandlungen hätte vornehmen können und damit „Herr seiner Entschlüsse“ geblieben ist [...].“ Dies unterstreicht im Allgemeinen die Bedeutsamkeit des Grundlagen- wissens und im Besonderen der subjektiven (Täter-)Perspektive bei der Rücktrittsprüfung. Bei entsprechen- der Anwendung respektive Beachtung hätte es nämlich ggf. keine Aufhebung der (rücktrittsverneinenden) Entscheidung bedurft.
Kraftfahrzeugrennen trotz kurzer Distanz (KG, Beschl. v. 18.05.2022 – 3 Ss 16/22)
Das KG (ausnahmsweise keine Entscheidung des BGH!) bejahte eine Strafbarkeit des Angeklagten nach § 315d Abs. 1 Nr. 2 StGB wegen eines verbotenen Kraftfahrzeugrennens, trotz einer (Renn-)Distanz von 50 Metern. Entscheidend sei nicht die Streckenlänge, sondern der beabsichtigte Vergleich der Beschleuni- gungsmöglichkeiten hochmotorisierter Fahrzeuge. Dogmatisch erscheint dies aufgrund der Ausgestaltung der Norm als abstraktes Gefährdungsdelikt zwar nachvollziehbar, allerdings sollte in einer Klausur zumin- dest über die Möglichkeit einer teleologischen Reduktion nachgedacht werden, sofern keine weiteren Ver- kehrsverstöße beim Rennen begangen wurden.
Betrug mittels PayPal-Konten: Eine Frage der Konkurrenzen (BGH, Beschl. v. 04.08.2021 – 4 StR 81/22, NStZ-RR 2022, 310)
Der Angeklagte wollte unter Angabe fiktiver Personalien diverse Mobilfunkverträge abschließen, um an hochwertige Smartphones zu gelangen – natürlich ohne zu zahlen. Zur Umgehung dieser Pflicht hatte er bei PayPal mehrere Konten erstellt, die er jeweils für zwei bis drei Bestellungen verwendete. Auf der Kon- kurrenzebene stellte der BGH dabei klar, dass das Speichern der beweiserheblichen Daten (Anlegen der PayPal-Konten) einer Strafbarkeit nach § 269 StGB unterfällt und dass die (versuchten) Betrugstaten, die durch die täuschende Verwendung der zuvor gespeicherten Kontodaten begangen wurden, zur Tateinheit verbunden werden. Mit anderen Worten: Das dreifache Verwenden eines angelegten PayPal-Kontos führt zu einer Strafbarkeit wegen Fälschung beweiserheblicher Daten in Tateinheit mit (versuchtem) Betrug in drei Fällen gem. §§ 269, 263, 52 StGB.
Examensrelevante Rechtsprechung – März 2023 Wiss. Hk. Aline Thome
Zum Verhältnis von Gefährdungsvorsatz nach § 315d Abs. 2 StGB und bedingtem Tötungsvorsatz (BGH, Urt. v. 18.8.2022 4 StR 377/21, NZV 2022, 569 (m. Anm. Preuß))
Der Angeklagte befuhr als „Einzelraser“ i.S.d. § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB mit weit überhöhter Geschwindigkeit die Überholspur der Autobahn und kollidierte mit dem ausscherenden PKW des Tatopfers, welches noch an der Unfallstelle verstarb. Die Schwerpunkte der Entscheidung liegen auf den Anforderungen an die Feststellung des Gefährdungsvorsatzes nach § 315d Abs. 2 StGB sowie dem Verhältnis des Gefährdungsvorsatzes zum bedingten Tötungsvorsatz. Hierbei hatte der Senat zu klären, ob es möglich ist, dass der Täter hinsichtlich desselben Tatobjekts mit Gefährdungsvorsatz, jedoch ohne Verletzungsvorsatz, handelt. Sofern der Täter ernsthaft darauf vertraut, einer drohenden Kollision noch „in allerletzter Sekunde“ ausweichen zu können, stellt er sich einen „Beinahe-Unfall“, mithin eine konkrete Gefahr, als naheliegende Möglichkeit vor und findet sich mit dem Eintritt dieser Gefahrenlage ab. Der BGH überträgt damit die Auslegung der Rechtsprechung zum Gefährdungsvorsatz in den §§ 315–315 c StGB auf § 315d StGB.
Rücktritt vom Tötungsversuch bei außertatbestandlicher Zielerreichung (BGH, Beschl. v. 3.5.2022 – 3 StR 120/22, BeckRS 2022, 14770)
In diesem „Klausurklassiker“ bestätigt der BGH seine in ständiger Rechtsprechung vertretene Auffassung, dass die „außertatbestandliche Zielerreichung“ und die damit verbundene vom Täter erkannte Nutzlosigkeit der Tatfortsetzung weder zur Annahme eines fehlgeschlagenen Versuchs führt noch einer Freiwilligkeit des Rücktrittsentschlusses entgegensteht. Vorliegend trat der Angeklagte von hinten an das arglose Tatopfer heran und zog ihm unter billigender Inkaufnahme des Todes ein Messer am Hals entlang, um es als Hindernis bei der Umsetzung seines eigentlichen Planes, seine Ehefrau zu töten, „aus dem Weg zu schaffen“. Obwohl das Tatopfer hierdurch nicht tödlich verletzt wurde, sah er von einer weiteren Einwirkung ab und widmete sich seinem primären Handlungsziel.
Zum Gewahrsam des Bankkunden am Bargeld im Ausgabefach des Geldautomaten (BGH, Beschl. v. 3.3.2021 − 4 StR 338/20, NStZ 2021, 425 (m. Anm. El-Ghazi))
Ein Bankkunde führte in der Absicht, Bargeld abzuheben, seine EC-Karte in den Geldautomaten ein und gab die PIN-Nummer ein. Sodann verschafften sich die Angeklagten Zugriff auf den Automaten und tippten den auszuzahlenden Betrag anstelle des Opfers ein. Anschließend entnahmen sie das ausgegebene Bargeld aus dem Ausgabefach und entfernten sich. Dem Senat stellte sich die Frage, ob die Herausnahme von Bargeld, welches ein Geldautomat nach äußerlich ordnungsgemäßer Bedienung ausgibt, den Bruch des (gelockert fortbestehenden) Gewahrsams des den Automaten betreibenden Geldinstituts bzw. der für dieses handelnden natürlichen Personen darstellt oder ob die Freigabe des Geldes als willentliche Aufgabe des Gewahrsams zu werten ist. Die Beantwortung fällt innerhalb der Rechtsprechung des BGH uneinheitlich aus. Der 4. Strafsenat nimmt Bezug zu den ergangenen Entscheidungen in ähnlich gelagerten Fallkonstellationen, lässt die Streitfrage aber mit der Begründung offen, dass der Bankkunde bereits selbst Mitgewahrsam an dem ausgegebenen Bargeld erlangt habe, den die Angeklagten jedenfalls dadurch gebrochen haben, dass sie das Bargeld aus dem Ausgabefach entnahmen.
Examensrelevante Rechtsprechung – Februar 2023 Wiss. Mit. Fatih-Anil Uzun
Entschlussfreiheit des Führers eines Kraftfahrzeugs iSd § 316a StGB (BGH, Beschl. v. 07.07.2022 – 4 StR 508/21)
In dieser Entscheidung geht es um das Inszenieren eines Auffahrunfalls mit dem Ziel, den Unfallgegner zum Halten zu bringen um ihn anschließend zu berauben. Der BGH bestätigt mit dieser Entscheidung einen Angriff auf die Entschlussfreiheit des Führers eines Kraftfahrzeugs und wertet das Tatgeschehen als räuberischen Angriff auf Kraftfahrer gem. § 316a Abs. 1 StGB. Der BGH wertet die herbeigeführte Kollision – auch wenn hierin ein täuschendes Element vorhanden sei – nicht als List, sondern als Entfaltung einer nötigungsgleichen Wirkung. Begründet wird dies mit dem empfundenen Zwang des Fahrzeugführers – aufgrund der sanktionsbewehrten Rechtspflicht – am Unfallort zu bleiben und Feststellungen zu der Person zu ermöglichen.
Zum unmittelbaren Ansetzen beim versuchten Wohnungseinbruchdiebstahl (BGH, Beschl. v. 19.05.2021 – 6 StR 28/21)
Der Angeklagte entschloss sich gewaltsam in ein Wohnhaus einzudringen. Dafür warf er mit einem Stein ein Loch in eine Glasscheibe, um durch das Loch hineinzugreifen, die Klinge des Fensters herunterzudrücken, um somit in die Wohnräume zu gelangen. Jedoch wachten die schlafenden Hausbewohner wegen dem Einwerfen der Scheibe und dem damit verursachten Lärm auf und schalteten das Licht im Treppenhaus an. Dies bemerkte der Angeklagte und ging davon aus, das Haus nicht mehr ungestört durchsuchen zu können, sodass er sich entfernte. Der BGH beschäftigte sich vorliegend mit der Frage des unmittelbaren Ansetzens beim Wohnungseinbruchdiebstahl und stellt klar, dass das wesentliche Kriterium für die Abgrenzung zwischen Vorbereitungs- und Versuchsstadium – inwieweit das geschützte Rechtsgut aus Sicht des Täters konkret gefährdet ist – auch für die Prüfung des Versuchsbeginns bei Qualifikationstatbeständen oder Tatbeständen mit Regelbeispielen sei. Dies sei beim Wohnungseinbruchdiebstahl regelmäßig anzunehmen, wenn der Täter beim Beginn des Einbrechens, Einsteigens oder Eindringens beabsichtigt, sich nach dem direkten Begeben in die Wohnung daraus Gegenstände zu entwenden. Da der Angeklagte im vorliegenden Fall beim Einwerfen der Glasscheibe diese Vorstellung gehabt haben soll, sei das geschützte Rechtsgut aus seiner Sicht schon mit dem Beginn des Einwerfens der Glasscheibe konkret gefährdet.
Zur tätigen Reue bei der Brandstiftung gem. § 306b II Nr. 1 StGB (BGH, Beschl. v. 27.05.2020 – 1 StR 118/20)
Die Vorschrift der tätigen Reue des § 306e Abs. 1 StGB sei auf die Qualifikation des § 306b Abs. 2 Nr. 1 StGB analog anzuwenden, wenn – wie im entschiedenen Fall – der Täter, statt den Brand zu löschen, die konkrete Lebensgefahr für das Opfer freiwillig durch anderweitige Rettungshandlungen beseitigt. Der BGH befürwortet damit die hierzu vertretene Ansicht, dass eine Strafmilderung nach § 49 Abs. 2 StGB in Betracht kommt, wenn der Täter die Gefahr auf andere Weise als das Löschen des Brandes abwendet. Da nach überwiegender Auffassung in Rechtsprechung und Literatur eine Analogie zu Gunsten des Täters zulässig ist, steht Art. 103 Abs. 2 GG diesem Ergebnis nicht entgegen.
Examensrelevante Rechtsprechung – Januar 2023 Wiss. Hk. Benedikt M. Müller, LL.M. (Oslo)
Gesamtwürdigung bei der Feststellung von niedrigen Beweggründen (BGH, Urt. v. 30.3.2022 – 5 StR 358/21, NStZ 2022, 740 = BeckRS 2022, 8075)
Für die Begründung eines niedrigen Beweggrundes i.S.v. § 211 Abs. 2 Gr. 1 Var. 4 StGB bedarf es einer Gesamtwürdigung der Umstände der Tat, der Lebensverhältnisse des Täters und seiner Persönlichkeit. Auch grundsätzlich nachvollziehbare Gefühlsregungen wie Wut oder Ärger können dann als niedrige Beweggründe in Betracht kommen, wenn sie nicht mehr menschlich verständlich sind. Hiervon ist der BGH in einem Fall ausgegangen, in welchem der Angeklagte auf eine von ihm so verstandene (marginale) Respektlosigkeit („Anrempeln“) eines 13-Jährigen, maßlos übertrieben reagierte, diesen scharf „anpöbelte“ und aus dem folgenden Wortgefecht mit einem tödlichen Messerstich „als Sieger vom Platz gehen“ wollte.
Bestimmung der Obhuts- und Beistandspflicht nach § 221 I Nr. 2 StGB (BGH Urt. v. 21.9.2022 – 6 StR 47/22, StraFo 2022, 482)
Nach den Urteilsfeststellungen tranken die Angeklagten zusammen mit O eine erhebliche Menge Alkohol in einer Gaststätte, in dessen Folge insbesondere O derart intoxikiert war, dass er sich kaum mehr auf den Beinen halten konnte und eine Böschung zum Ufer eines Flutkanals hinabstürzte, wo er sich im untätigen Beisein der Angeklagten versuchte aufzurichten, das Gleichgewicht verlor, in das fließende Gewässer stürzte und ertrank. Der BGH führt aus, dass zur Bestimmung der Obhuts- und Beistandspflicht im Zusammenhang des § 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB die Grundsätze heranzuziehen sind, die für die Entstehung einer Garantenstellung i.R.d. § 13 StGB gelten. Vor diesem Hintergrund bejaht der BGH eine Pflicht der Angeklagten (aus sog. „Ingerenz“) u.a. deshalb, weil diese, nach dem gemeinsamen Umtrunk im Wissen um die Hilflosigkeit des O diesen aus dem Einflussbereich der anwesenden Personen in der Gaststätte verbrachten und am Uferrand jede Hilfe versagten. Hierdurch sei die für das Opfer bestehende Gefahr jeweils wesentlich erhöht und damit eine Beistandspflicht begründet worden.
Anforderungen an eine drogenbedingte Fahruntüchtigkeit (BGH, Beschl. v. 2.8.2022 (4 StR 231/22, NStZ 2022, 741 = BeckRS 2022, 20794))
Anders als im Zusammenhang zu Alkoholkonsum und der in der Praxis hierzu entwickelten, „Promillegrenzen“ (als prozessuale Beweisregeln) genügt ein bestimmter Blutwirkstoffbefund betreffend Betäubungsmitteln alleine nicht zum Nachweis einer drogenbedingten Fahruntüchtigkeit i.S.v. § 316 Abs. 1 Alt. 2 bzw. § 315c Abs. 1 Nr. 1 lit. a Alt. 2 StGB. Vielmehr bedarf es „weiterer aussagekräftiger Beweisanzeichen, die im konkreten Einzelfall belegen, dass die Gesamtleistungsfähigkeit des Kraftfahrzeugführers soweit herabgesetzt war, dass er nicht mehr fähig gewesen ist, sein Fahrzeug im Straßenverkehr eine längere Strecke, auch bei Eintritt schwieriger Verkehrslagen sicher zu steuern.“ Der BGH sieht im Fall ein solches Beweisanzeichen nicht schon darin, dass der Angeklagte grob fehlerhaft und risikoreich gefahren ist, weil dieses Verhalten auch darauf habe ausgerichtet sein können, sich von den ihn verfolgenden Polizeifahrzeugen abzusetzen.
Examensrelevante Rechtsprechung – Dezember 2022 Wiss. Mit. und RA Dr. Kai-Daniel Weil
Zur objektiven Zurechnung bei sog. Berufsrettern (BGH, Beschl. v. 05.05.2021 – 4 StR 19/20, NJW 2021, 3340 m. Anm. Mitsch)
In dieser Entscheidung widmet sich der BGH der Thematik der objektiven Zurechnung im Kontext des Vorwurfs der fahrlässigen Tötung bzw. Körperverletzung gem. §§ 222; 229 StGB. Konkret stand die Frage im Raum, ob sich eine fahrlässig herbeigeführte Gefahr im eingetretenen Erfolg zurechenbar niederschlägt, wenn sog. berufsmäßige Retter (bspw. Feuerwehrleute) einschreiten und dabei Verletzungen erleiden. Schon fast lehrbuchartig erörtert der BGH Fragen aus dem Bereich der eigenverantwortlichen Selbstgefährdung und bejaht letztendlich die Zurechenbarkeit.
Zum Alternativvorsatz bei verschiedenen Rechtsgutsträgern (BGH, Urt. v. 14.01.2021 – 4 StR 95/20, NJW 2021, 795 m. Anm. Mitsch)
A schlug nach den Urteilsfeststellungen mit einem Hammer in Richtung der N sowie deren dahinter befindlichen Bruder B, der letztendlich getroffen und verletzt wurde. A hielt es dabei für möglich, dass der Hammer N oder B treffen und verletzen könnte, was er auch billigend in Kauf nahm. Der BGH bestätigt die Verurteilung des A wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung betreffend N und wegen (vollendeter) gefährlicher Körperverletzung bzgl. B. (gem. §§ 223, 224 I Nr. 2, 22) StGB in Tateinheit gem. § 52 StGB). Konkret stehe ein sog. Alternativvorsatz der Annahme zweier bedingter Körperverletzungsvorsätze nicht entgegen, da gerade ein Handeln mit einem erstarkten kognitiven Element nicht festgestellt werden konnte. Zwar könne ein sicheres Wissen die Annahme zweier Vorsätze in einer solchen Konstellation ausschließen. Dies gelte jedoch nicht für zwei Eventualvorsätze, da die hierin zu sehende Annahme einer jeweils bloßen (Realisierungs-)Möglichkeit eine entsprechende Begründung zulasse. Fraglich bleibt indessen, ob bei derartigen Feststellungen überhaupt ein alternativer Vorsatz angenommen werden kann oder nicht vielmehr ein kumulativer Eventualvorsatz vorliegt.
Zur Erforderlichkeit der Notwehrhandlung beim Einsatz eines Messers (BGH, Beschl. v. 23.09.2021 – 1 StR 321/21, NStZ 2022, 352)
A und N trafen sich nach einer am gleichen Abend vorangegangen Gruppen-Rangelei vor einer Gaststätte in L wieder. Hierbei kam es erneut zum Streit, bei welchem A zweimal (vermutlich) mit einem Messer auf N einstach, als dieser von N (teilweise) fixiert auf dem Rücken lag. Zugunsten des A war davon auszugehen, dass N zuerst auf A einschlug. Die daraus resultierende Verurteilung des A gem. §§ 223, 224 StGB hob der BGH auf, da das LG eine mögliche Notwehrsituation (§ 32 StGB) zugunsten des A nicht geprüft hatte – trotz Einsatz eines Messers. Ein solcher könne nämlich auch ohne vorherige Androhung im Rahmen einer Notwehrhandlung erforderlich sein (die Konstellation erinnert an den sog. Hells-Angels-Fall, vgl. BGH. Urt. v. 02.11.2011 – 2 StR 375/11, NStZ 2012, 272 m. Anm. Engländer).
Examensrelevante Rechtsprechung – November 2022 Wiss. Hk. Aline Thome
Der sog. „Insulin-Fall“: Abgrenzung von Tötung auf Verlangen zur straflosen Suizidbeihilfe (BGH, Beschl. v. 28.6.2022 – 6 StR 68/21, NStZ 2022, 663 (m. Anm. Hoven/Kudlich))
In der Entscheidung kehrt der BGH für die Differenzierung zwischen Tötung auf Verlangen gem. § 216 StGB und strafloser Beihilfe zum Suizid nicht von den bisherigen Maßstäben der Rspr. (insb. zum „Gisela-Fall“ (BGHSt 19, 135) und „Gashahnfall“) ab, wendet diese aber weitreichender an. Dabei soll weiterhin die Tatherrschaft des Handelnden maßgeblich sein, die nicht allein anhand des letzten Handlungsakts, sondern durch eine wertende Betrachtung des gesamten Geschehens zu interpretieren ist. Insoweit scheint die Entscheidung im Hinblick auf die Feststellung von Tatherrschaft von den bisherigen Kriterien abzuweichen. Daneben überträgt der BGH die vom BVerfG in Bezug auf § 217 Abs. 1 StGB entwickelten Grundsätze auf § 216 Abs. 1 StGB, weil diese Vorschrift in vergleichbarer Weise in das Grundrecht auf selbstbestimmtes Sterben eingreift. Er befürwortet eine verfassungskonforme Reduktion des § 216 Abs. 1 StGB dahingehend, diejenigen Fälle aus dem Anwendungsbereich der Norm auszunehmen, in denen der Sterbewillige zur Durchführung des Suizids auf Dritte angewiesen ist.
Der sog. „Porsche-Mord“: Normative Korrektur der Heimtücke (BGH, Beschl. v. 18.11.2021 − 1 StR 397/21, NStZ 2022, 288 (m. Anm. Nettersheim))
Begeht der Täter seine Tat als Opfer einer Erpressung in einer bestehenden Notwehrlage, kann dies – unbeschadet der weiteren Voraussetzungen dieses Rechtfertigungsgrundes – Auswirkungen auf die Beantwortung der Frage heimtückischen Handelns haben. Das Mordmerkmal der Heimtücke ist insoweit einer normativ einschränkenden Auslegung zugänglich, die dem Wortsinn des Begriffs mit dem ihm innewohnenden Element des Tückischen Rechnung zu tragen hat. Insoweit verwendet der Erste Senat die Wendung „Tücke“ als Einfallstor für eine normative Bewertung des Gesamtgeschehens, welches einer heimtückischen Begehung entgegenstehen soll. Auf Rechtfertigungsebene ist zu berücksichtigen, dass es einem Opfer längerfristiger Erpressung in der Regel möglich und zumutbar ist, sich zur Abwehr des Angriffs an die Strafverfolgungsbehörden zu wenden, und dies dem Verbot des Zwangs zur Selbstbelastung („nemo tenetur“) nicht widerspreche. Der Fall weist Parallelen zum „Haustyrannenfall“ (BGHSt 48, 255) auf, bei dem ebenfalls die Gegenwehr des Opfers veranlasst wird. Während dort Korrekturen über die sog. Rechtsfolgenlösung vorgenommen wurden, verneint der BGH (in Anknüpfung an den Chantage-Fall, BGHSt 48, 207) hier den Tatbestand des Mordes wohl durch eine teleologische Reduktion des Merkmals der Heimtücke.
Täuschungsbedingtes Einverständnis in die Freiheitsberaubung (BGH, Urt. v. 8.6.2022 − 5 StR 406/21, NJW 2022, 2422 (m. krit. Anm. Kudlich/Schütz))
In einer aktuellen Entscheidung stellt der BGH entgegen der im Schrifttum weit verbreiteten Ansicht, dass es auf die aktuelle Fortbewegungsfreiheit ankäme nochmals klar, dass Bezugspunkt für ein tatbestandsausschließendes Einverständnis in eine Freiheitsberaubung gem. § 239 StGB die potentielle persönliche Bewegungsfreiheit ist. Entscheidend ist allein, ob es dem Opfer unmöglich gemacht wird, seinen Aufenthalt nach eigenem Belieben zu verändern. Ob er seine Freiheitsbeschränkung überhaupt realisiert, ist danach ohne Belang. Ein durch List oder Täuschung erschlichenes Einverständnis des Betroffenen in eine ihm nicht bewusste Freiheitsentziehung stelle sich lediglich als ein Mittel zur leichteren Begehung der Freiheitsberaubung durch Verhinderung des zu erwartenden Widerstands des Betroffenen dar, das nicht zu einem Ausschluss des objektiven Tatbestands des § 239 Abs. 1 StGB führen kann. Freilich könnte man sich auch auf den Standpunkt stellen, dass etwaige Täuschungen die Wirksamkeit eines Einverständnisses unberührt lassen.