Forschungsgruppe "Populärkultur transnational – Europa in den langen 1960er Jahren"

Die Forschungsgruppe "Populärkultur transnational – Europa in den langen 1960er Jahren" wird von 2018 bis 2026 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert. Sprecher ist Prof. Dr. Dietmar Hüser (Europäische Zeitgeschichte).

Drei Fragen an Prof. Dr. Dietmar Hüser

1) Was erforschen Sie in der Forschungsgruuppe "Populärkultur transnational"?

Die deutsch-luxemburgische DFG-Forschungs­gruppe 2475 erforscht die Relevanz grenz­über­schreitender Phänomene und Prakti­ken der Populär­kultur für den politischen und gesell­schaftlichen Wandel im Europa der frühen Nach­kriegs­jahr­zehnte sowie deren lang­fristige Wirk­mächtigkeit. Das Verbund­vorhaben zielt darauf ab, eine neu­konzeptualisierte Gesamt­analyse euro­päischer "Populär­kultur transnational" für die langen 1960er Jahre vorzu­legen, die nicht zuletzt den Mehr­wert eines transnationalen Zugriffs gegen­über Einzelländer­analysen nachzu­weisen versucht.
Grundl­age dafür sind sieb­zehn – sieben in Förder­phase I, zehn in Förder­phase II – empirische Teil­projekte, die als Promotions- bzw. Postdoc-Vorhaben allesamt vergleichs-, transfer- und verflechtungs­historisch dimensioniert sind und verschiedene populär­kulturelle Artikulationen (z.B. Musik, Jugend­kultur, TV-Kinder­serien, Unterhaltungs­shows, Kommerz­radio, Amateur­filme, Comics, Fußball-Fankulturen, Gesellschafts­spiele, Postkolonial-Kulturen, Jahrmärkte, Ferntourismus­diskurse, Land­kommunen, Tanzbälle, Produkt­werbung) für mehrere Länder, Kultu­ren und Gesell­schaften in den Blick nehmen.
Gemeinsam sind den Mehrländer­studien die räumliche – Westeuropa – und zeitliche – die lan­gen 1960er Jahre – Rahmung sowie die dicht verwobe­nen Untersuchungs­designs. Sämtliche Teil­projekte sind im Kern wechsel­seitig aufeinander bezogen, operieren mit ähnlichen Leit­fragen und verorten sich in zehn erkenntnis­leitenden Spannungs­feldern, die als Quintessenz aktueller zeit­historischer Debatten und Kontro­versen im Forschungs­feld transnationaler Populär­kultur gelten können.
Über die spezifischen Erkenntnis­gewinne der einzelnen Fall­studien hinaus zielt die Forschungs­gruppe darauf, ein thematisch breites, konzeptionell innova­tives und empirisch fundiertes Panorama grenz­über­schreitender euro­päischer Populär­kultur für die langen 1960er Jahre aufzu­falten. Ein solches Panorama zur Debatte zu stellen, darin wird lang­fristig der bleibende Mehr­wert des Gesamt­vorhabens bestehen.

 

2) Was ist der spezifische Beitrag zur Europaforschung?

Eine Geschichte der Populärkultur hat in vielen kontinental­europäi­schen Ländern lange einen vergleichs­weise schweren akade­mischen Stand gehabt. Anders als in den Vereinig­ten Staaten oder in Groß­britannien machte gerade in Deutsch­land und Frank­reich das Gros der Forschen­den über viele Jahre hinweg einen weiten Bogen um alles Massen­hafte und Populäre, um Unter­haltendes für möglichst weite Adressaten­kreise, um Publikums­zeitschrif­ten, Roman­heftchen oder Comic­serien, um Kino, Rund­funk oder Fernsehen, um breiten­wirksame Musik­genres, Kunst­formen oder Sport-Events. Da weiterhin die Wirk­kraft von Populär­kultur für den Wandel euro­päischer gesell­schaftlicher und politischer Verhält­nisse unter­schätzt wird, arbeitet die DFG-Forschungs­gruppe mit Nach­druck daran, deren Erkenntnis­potenziale und Veränderungs­dynamiken empirisch nachzu­weisen und ins öffentliche Bewusst­sein zu rücken.
Einen weiteren Beitrag zur Europa­forschung leistet das Verbund­projekt durch das kritische Hinter­fragen gängiger Vorstellun­gen einer mehr oder weniger einseitigen Amerikani­sierung der "Alten Welt" in den frühen Nachkriegs­jahrzehnten. Einer solchen Amerikanisierungs­geschichte stellt die Forschungs­gruppe konsequent ein Europäisierungs­paradigma euro­päischer Gesell­schaften entgegen. Tatsächlich lässt sich in zahl­reichen Teil­projekten empirisch nach­weisen, dass trotz ameri­kanischer Einflüsse von populär­kultureller Hegemonie keine Rede sein konnte und die Verflechtungs­bilanz nuancierter ausfiel.
Im Musik­bereich z.B. entstand – unabhängig von den USA – in den langen 1960er Jahren ein populär­musikalisches Netz­werk aus bewussten Mittlern und nicht-intentionalen Akteur­en, die durch Koproduktion, Kooperation und Programm­austausch die damalige Musik­landschaft euro­päisierten. In West­deutschland waren es gerade diverse franzö­sische Musik­sparten, die das Angebot pluralisier­ten, politische, gesell­schaftliche wie inter­generationelle Debatten anregten und damit die Grenzen des öffentlich Sag- und Mach­baren dauer­haft verschoben.

3) Was bedeutet Europa für Sie persönlich?

Für mich als Zeithistoriker bedeutet Europa – und Euro­päische Geschichte im 20. Jahr­hundert – nicht die Sum­me einzelner National­geschichten euro­päischer Staaten, sondern eine trans­nationale Geschichte eigener Qualität,

  • die Austausch­prozesse und Verflechtungen, Beziehungen und Wahr­nehmungen zwischen euro­päischen Räumen, Staaten, Gesell­schaften und Kultu­ren wie auch zwischen Euro­pa und anderen Welt­regionen angemessen berück­sichtigt
  • und die sich nur als stets neu zu ver­handelndes Ergebnis viel­schichtiger und kom­plexer Erfahrungen, Auseinander­setzungen und Lern­prozesse fassen und fort­denken lässt.

Dietmar Hüser ist seit 2013 Professor für Euro­päische Zeit­geschichte an der Universität des Saar­landes und seit 2018 Sprecher der  DFG-Forschungsgruppe Populärkultur transnational – Europa in den langen 1960er Jahren.