Portugal 2015/2016

Prof. Dr. Teresa Pinheiro – Europa-Gastprofessur im Wintersemester 2015/2016

Nach Griechenland ist nun Portugal das Gastland der Europa-Professur an der Universität des Saarlandes. Der Übergang könnte passender nicht sein, denn meine Heimatstadt Lissabon (gr. Olissipo) soll ihren Namen – angelehnt an einen vagen Hinweis von Strabo im dritten Buch seiner Erdbeschreibung – so der Volksmund – dem griechischen Helden Odysseus verdanken, der somit in der kollektiven Vorstellung als Gründer der Hauptstadt Portugals gilt. Auch wenn die Sage jeglicher historischer Evidenz entbehrt, so blickt Lissabon auf eine sehr alte Besiedlungsgeschichte zurück: Phönizier, Karthager und Griechen sollen den natürlichen Hafen an der Mündung des Tejo in den Atlantik genutzt und damit in Lissabon Stützpunkte gegründet haben. Einen heute noch spürbaren Einfluss hinterließen vor allem die römische und später die maurische Herrschaft. Das Königreich Portugal entstand im Zuge der Reconquista in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts. Seit Mitte des 13. Jahrhunderts ist Lissabon die Hauptstadt des Landes.

In Lissabon bin ich im Jahre 1972 geboren – das heißt zwei Jahre vor der Nelkenrevolution, die am 25. April 1974 der Diktatur des Estado Novo ein Ende setzte. Diese Tatsache hat meinen persönlichen und wissenschaftlichen Werdegang beeinflusst. Zwei Jahre vor der Nelkenrevolution geboren zu sein, hat mir den glücklichen Umstand beschert, dass meine Sozialisation bereits im demokratischen Portugal stattfinden konnte. Mehr noch: Ich erlebte tagtäglich das Werden der Demokratie Portugals. In den ersten Jahren meines Lebens nahm ich die Kampagnen der zahlreichen – meist linken – Parteien wahr, die mit Lautsprecher auf den Autodächern durch die Stadtteile zogen und ihre revolutionären Botschaften kundtaten. Vage erinnere ich mich an den langen Menschenschlangen vor den Wahllokalen am 25. April 1975. An jenem Tag fand die Wahl zur verfassunggebenden Versammlung statt, die erste freie Wahl seit vielen Jahrzehnten.

Als Schulkind konnte ich die Mäander der jungen Demokratie verfolgen und erlebte hautnah die großen Herausforderungen, die mit dem Ende der Diktatur und des Kolonialismus auf das Land zukamen: die Aufnahme von über einer halben Million portugiesischer Siedler – die retornados – , die im Zuge der Unabhängigkeitskämpfe der afrikanischen Kolonien Mitte der 70er Jahre in der Metropole Schutz suchten; oder die Entstehung von regelrechten Slums an der Peripherie der großen Städte, weil die afrikanischen Migranten nun nicht mehr die portugiesische Staatsangehörigkeit besaßen und somit in die Illegalität abgedrängt wurden. Diese Herausforderungen waren vor allem für die Neuankömmlinge schwere Belastungen, haben aber dazu beigetragen, dass die portugiesische Gesellschaft offener, vielfältiger und toleranter wurde – etwas, was uns heute angesichts der Flüchtlingskrise zu denken gibt.   

Ich erlebte aber auch die Europäisierungsdynamik, die durch Politik und Gesellschaft ging: Portugal verabschiedete sich von seiner „atlantischen Bestimmung“ und wandte sich dezidiert Europa zu. Sehr gut erinnere ich mich an jenen historischen Tag vor 30 Jahren, als der damalige Premierminister Mário Soares den EWG-Beitrittsvertrag vor dem Hieronymus-Kloster in Lissabon unterzeichnete, genau dort also, wo 500 Jahre zuvor die portugiesischen Karavellen ins Meer stachen – deutlicher lässt sich der Identitätswandel Portugals von einer Kolonialmacht zum modernen europäischen Staat kaum greifen.   

Am 1. Oktober 1990 nahm ich das Studium der Germanistik und Lusitanistik an der Universität Lissabon auf. Zwei Tage später hatte sich der Gegenstand meines Studiums geändert, denn Deutschland vollzog die Wiedervereinigung. Es war eine sehr aufregende Zeit: Gemeinsam lernten Dozenten und Studierende die Hauptstädte der neuen deutschen Bundesländer; im Goethe-Institut in Lissabon liefen Gastvorträge und Informationsveranstaltungen zu den Ereignissen im nun geeinten Deutschland, die ich mit meinen rudimentären Deutschkenntnissen mühevoll zu verfolgen versuchte.

Portugal stand damals in der ersten Blüte des Europäisierungsprozesses. Die Hochschul- und Forschungslandschaft bekam starke Impulse, die Arbeits- und Studienbedingungen verbesserten sich und wurden internationaler. Als ich 1992 an die Universität zu Köln zum Studium ging, gehörte ich zu den ersten Jahrgängen, die in den Genuss eines ERASMUS-Stipendiums kamen. Mittlerweile ist das Austauschprogramm eine Standard-Referenz für junge Europäerinnen und Europäer und zugleich eine Erfolgsgeschichte des europäischen Projekts. Dabei ist Portugal hauptsächlich Empfänger und weniger Entsender von ERASMUS-Studierenden, was nicht zuletzt an den landschaftlichen und kulturellen Reizen des Landes – aber auch an den wirtschaftlichen Disparitäten innerhalb Europas – liegen dürfte. Kurz nachdem ich 1994 mein Studium in Lissabon abgeschlossen hatte, kam ich an die Universität Bayreuth, wo ich Lektorin für Portugiesisch wurde. Ich reiste mit zwei Koffern und ohne Reisepass, denn Grenzen gab es zwischen Portugal und Deutschland keine mehr. Auch die Nationalität spielt damals keine Rolle bei der Einstellung im Freistaat Bayern mehr – dafür aber das Alter, denn mit 22 Jahren war ich fast noch zu jung für den öffentlichen Dienst.

Inzwischen hatte nicht nur Portugal den Weg nach Europa gefunden, sondern Europa selbst war im Wandel begriffen: Der Fall des Eisernen Vorhangs, das Ende des Kalten Krieges, die zunehmende Globalisierung führten sowohl zur Erweiterung der Europäischen Union, als auch zur Intensivierung der politischen Integration. Portugal war aktiv an diesem Wandel beteiligt: Zehn Jahre lang war Manuel Durão Barroso Präsident der Europäischen Kommission, der Vertrag von Lissabon wurde 2007 unter portugiesischer Ratspräsidentschaft unterzeichnet.

Dass ich in Lissabon gerade in den turbulenten Jahrzehnten nach der Nelkenrevolution aufgewachsen bin, hat mich nicht nur als Mensch geprägt, sondern hat auch meine wissenschaftlichen Interessen stimuliert. Obwohl ich die Diktatur nicht mehr bewusst erlebt habe, bin ich mit dem Gedanken aufgewachsen, dass Demokratie nicht per se existiert, sondern sich in stetiger Konstruktion befindet. Diese Erfahrung hat auch meine Neugierde für Prozesse politischer Transitionen geweckt – ein Thema mit dem ich mich wissenschaftlich beschäftige.

Es wundert deswegen kaum, dass ich nach der Promotion im Fach Kulturwissenschaftliche Anthropologie meine akademische Arbeit an einem Europa-Institut fortsetzte. Seit 2004 habe ich die Professur Kultureller und Sozialer Wandel am Institut für Europäische Studien der Technischen Universität Chemnitz inne. Dort befasse ich mich mit dem iberischen Raum innerhalb des europäischen Gefüges und in seinen Verflechtungen mit Afrika und Lateinamerika. In Lehre und Forschung widme ich mich den oben dargestellten Themen der Erinnerungskulturen, der demokratischen Transitionen, der kollektiven – nationalen, regionalen und supranationalen (sprich europäischen) – Identitäten. Solche Themen lassen sich in Büchern, Filmen, in der Presse oder auch in öffentlichen Monumenten aufspüren, denn für die Kulturwissenschaften sind all diese Träger von Kultur.

Es ist mir deshalb eine besondere Freude, im Wintersemester 2015/16 den Auftakt für die Europa-Gastprofessur an der Universität des Saarlandes zu geben, einer Universität, die ganz im Zeichen des europäischen Einigungsprozesses entstanden ist. Auf das Gespräch mit Studierenden aus unterschiedlichen Fachrichtungen freue ich mich ebenso wie auf den Austausch mit den Kolleginnen und Kollegen an der Philosophischen Fakultät und darüber hinaus. Und natürlich freue ich mich auf das Saarland, dem ich familiär verbunden bin und wo ich immer wieder gerne bin.

 
Lehrveranstaltungen von Prof. Dr. Teresa Pinheiro im Wintersemester 2015/2016