Jahrestagung DGAVL 2014

Neue literatur- und kulturwissenschaftliche Perspektiven XVI. Tagung der Deutschen Gesellschaft für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft (DGAVL)

Universität des Saarlandes, Saarbrücken 10. bis 13. Juni 2014 Organisation: Prof. Dr. Christiane Solte-Gresser, Dr. Claudia Schmitt

Programm

Das Programm zur DGAVL 2014 finden Sie hier.

Fotos der Eröffnung

Fotos der Eröffnung der DGAVL 2014 finden Sie hier.

Tagungsbericht

Die zunehmende Präsenz von Natur- und Umweltthemen und das wachsende Bewusstsein für ökologische Probleme in Politik und Gesellschaft haben in der Literaturwissenschaft in den 1970er Jahren zur Herausbildung des Ecocriticism, eines ökokritischen Forschungsansatzes, geführt, der seither in nahezu alle kulturwissenschaftlichen Disziplinen Eingang gefunden hat.

Da die Ökokritik stark von der amerikanischen Forschung geprägt ist, war es den Organisatorinnen der Tagung Literatur und Ökologie. Neue literatur- und kulturwissenschaftliche Perspektiven, Christiane Solte-Gresser und Claudia Schmitt vom Lehrstuhl für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Universität des Saarlandes ein Anliegen, im Rahmen der XVI. Jahrestagung der DGAVL eine europäische Perspektive auf den gegenwärtigen Ecocriticism aufzuzeigen. Dabei lag ein besonderes Bestreben darin, internationale Ökokritiker unterschiedlicher Fachdisziplinen mit europäischen Literaturwissenschaftlern zusammenzuführen und so die Möglichkeit eines Diskurses zu eröffnen, der über Fach- und Nationengrenzen hinausreichte.

Die interdisziplinäre Dimension des Forschungsansatzes wurde bereits in den Eröffnungsvorträgen von Hannes Bergthaller (Taiwan) und Ursula K. Heise (Los Angeles) anschaulich. Bergthaller wies in seinem Beitrag On the Margins of Ecocriticism: European Perspectives nach, welche wissenschaftlichen Fortschritte die europäische Ökokritikforschung in den letzten Jahren gemacht hat, wohingegen in Heises Vortrag Comparative Literature between Anthropocene and Posthumanism die weitläufigen Dimensionen des Ansatzes aufgezeigt wurden und dabei die Rolle der Literaturwissenschaft im Beziehungsgeflecht zu anderen, an ökokritischen Fragen beteiligten Disziplinen verdeutlicht wurde.
An den folgenden drei Konferenztagen waren in insgesamt zehn thematischen Sektionen 57 Vorträge zu hören, die sich sehr divergent mit dem Tagungsschwerpunkt auseinandersetzten.

In der Sektion „Naturkonzepte & Räume“ wurden beispielsweise interkulturelle Vergleichsperspektiven, wie im Beitrag von Susanne Scharnowski (Berlin) The English „Countryside“ und „Heimat“: Natur und Umwelt in der englischen und deutschen Literatur und Kultur um 1900, aufgezeigt. Die literarische Auseinandersetzung mit dem Sujet Heimat als dem Raum, welchen es zu schützen gelte, und der daran geknüpften Vorstellung von Natur wurde hier vor den unterschiedlichen kulturellen und gesellschaftlichen Prägungen der beiden Nationen und der Transformation dieses Gedankenguts in die Literatur beleuchtet.
Eva Hassel-von Pocks (Darmstadt) Vortrag Öko-Fanatismus und Geo-Engineering: Von der Ideologisierung der Idee des ′Naturzustandes′ seit der Romantik. Interdisziplinäre Betrachtungen zwischen Naturwissenschaft und Literatur setzte literarische Texte in Bezug zu aktuellen wissenschaftlichen Diskussionen der Natur- und Umweltforschung, welche sich mit der nahenden ökologischen Katastrophe befassen.

Daneben entstand eine thematische Verbindung mehrerer Beiträge durch den Blick auf die globalisierte Welt im Panel „Alterität & Räume“. Hier wurden unter anderem von Stephanie Heimgartner (Bochum) im Rahmen der Präsentation Nomadinnen und Afropoliten – Lebensentwürfe im globalen Raum in Romanen von Marie NDiaye, Chimamanda Ngozi Adichie und Taiye Selasi postmoderne fiktionale Frauenfiguren analysiert. Diese neue Form des nomadischen Subjektivitätsverständnisses, welches sich immer als Teil des globalen Ökosystems begreife, wurde mit anderen literarischen Figurentypen und Lebensformen, welche in fiktionale Texte Eingang finden, verglichen.

Die Sektion „Alterität/Animal Studies“ befasste sich mit den Bezügen zwischen Mensch und Tier. Stellte Esra Aykin (Aix-Marseille) in ihrem Vortrag L´Animal ou l´autre Visage auf der Basis historischer und philosophischer Konzepte noch die Frage nach dem Desiderat einer neuen Beziehungsachse zwischen den Spezies, die sie auf der Grundlage zahlreicher interdisziplinärer und intermedialer Beispiele erläuterte, so beschäftigte sich Michael Eggers (Köln) mit Birdspotting. Das Mensch-Vogel-Verhältnis aus literarischer Perspektive und wies dabei anhand dreier Textbeispiele nach, welchen Bedeutungswandel die Auseinandersetzung mit dem Vogel in der Literatur vor historischem und kulturellem Hintergrund erfährt. Hierbei schien besonders bedeutend, dass aus der Art und Weise wie der Mensch sich der Vogelbetrachtung widmet, jeweils auch Rückschlüsse über das Verhältnis zwischen Mensch und Umwelt und seine Entfremdung von der Natur gezogen werden können.

Die Problematisierung von Abfall stand in einem gleichnamigen Panel im Zentrum. Lucie Taïeb (Brest) widmete ihren Beitrag Unsichtbare Mülldeponien den verborgenen, umfunktionierten und in den Lebensalltag der Menschen integrierten Abfallhalden, wohingegen Arlette Warken (Saarbrücken) in ihrer Präsentation Searching through Waste: The Scavenger in (Post-) Apocalyptic Texts anhand einer einschlägigen Werkauswahl die Müll- und Restesammlerfiguren in den Vordergrund ihrer Analyse stellte und dadurch die literarische Darstellung der ökologischen, ökonomischen und sozialen Realität der Postmoderne aufzeigte.

Dass nicht nur zeitgenössische literarische Produktionen ökokritisch gelesen werden können, wurde im Panel „Historische Perspektiven & Epochen“ deutlich. Hier wies beispielsweise Nevzat Kaya (Izmir) in seinem Vortrag Natur als imaginativer Gegendiskurs im Rahmen einer Literatur als kultureller Ökologie. Gedanken zur Décadence-Literatur des fin de siècle an ausgewählten Textbeispielen Beobachtungen zum Scheitern der literarischen Figuren nach, die sich ganz im Sinne des vorherrschenden Ästhetizismus gegen die Natur wenden und ihr die Künstlichkeit vorziehen.

Daneben beschäftigen sich zahlreiche Beiträge mit den Verbindungen von Intermedialität und Ökokritik. Die vielfältigen medialen Bezugsformen spiegelten sich in der Variationsbreite dieser Sektion wider.
Dazu zählten die Filmanalysen von Keyvan Sarkhosh (Frankfurt a. M.) „The Land of Lost Content“ – Ökokritik im Zeichen von Utopie, Alterität und Nostalgie in Nicolas Roegs Filmen ′Walkabout′ (1971) und ′The Man Who Fell to Earth′ (1976), an deren Beispiel aufgezeigt werden konnte, wie die Nostalgie zum Träger des Gefühls einer verlorenen Einheit zwischen Mensch und Natur wird und welche negative Sicht hier das Kino der 1970er Jahre auf die Zukunft des Planeten vermittelt.
Die TV-Serie, welche Jonas Nesselhauf (Vechta) und Markus Schleich (Saarbrücken) in ihrem Beitrag „This Firm Has Systematically Ravished the Environment“: Ökonomien der Zerstörung in KZKs ′Damages′ untersuchten, setzt sich mit der Aufklärung von Verbrechen auseinander, welche in Verbindung mit ökologischen Vergehen eines Großkonzernes stehen. Es konnte im Rahmen der Analyse nachgewiesen werden, dass die Natur in dieser Serie jedoch nie einen Eigenwert erlangt, sondern immer nur im Bezug zu dem dargestellt wird, was der Mensch von ihr fordert.
Neben Vorträge mit musikalischen Themenschwerpunkten fanden sich in der Sektion genauso Beiträge zum Genre der Graphic Novel, wie im Rahmen von Evi Zemaneks (Freiburg i. Br.) Präsentation „Kriegen wir die Kurve?“ Szenarien des Klimawandels in der Graphic Novel und zu dem des Kinderbuches in Anne Cirella-Urrutias (Austin, Texas) Beitrag La littérature illustrée de jeunesse: un nouvel espace littéraire pour une lecture écocritique des albums de Dominique Mwankumi wider. In letzterem ging es darum zu zeigen, wie einem jungen Leserpublikum durch die Verbindung von Erzählung und Bildsprache ökologische Probleme vermittelt werden und wie darüber die Möglichkeit eröffnet wird, ein Bewusstsein für die Umwelt zu schaffen.
Das Computerspiel war Gegenstand von Hans-Joachim Backes (Bochum) Vortrag Green Gaming. Vorschläge für eine ökokritische Lesart narrativer Computerspiele. In diesem Rahmen wurde deutlich gemacht, welchen Einfluss Computerspiele auf die persönliche Auseinandersetzung des Spielers mit ökokritischen Fragen haben. Desweiteren wurde eine neue Methode vorgeschlagen, welche Anthropozentrik-Kritik und etablierte Ansätzen der Computerspielethik verbindet und zu einem neuen Analyseraster führt.
Jana Schusters (Berlin) Beitrag Rauschen des Eises, Rinnen des Wassers – Naturwahrnehmung als szenischer Prozess in Adalbert Stiferts Prosa und Heiner Goebbels´ Installationsperformance ′Stifters Dinge′ bereicherte das Panel inhaltlich um den Vergleich rein sprachlicher Beschreibung von Naturwahrnehmung und deren Transformation in die Installationsperformance, welche die gleiche Intention wie die Prosa mit technischen Mitteln zu erzeugen versucht.
Einen weiteren intermedialen Aspekt stellte Sonja Klimeks (Fribourg) Vortrag Natur als Schöpfung denken – Intermediale Rezeption von Franz von Assisis „Sonnengesang“ seit den 1970er Jahren dar. Im Rahmen dieser Betrachtung wurde das Interesse einer ökokritisch denkenden Künstlerschaft an dem bekannten Gebet aus dem 13. Jahrhundert aufgezeigt und dessen vielfältiger und diverser Eingang in unterschiedliche mediale Formen analysiert.

In der Sektion „Erzähltexte“ wie auch im Panel „Lyrik“ wurden Beiträge zur Ökokritik in den unterschiedlichen literarischen Gattungen präsentiert. In zahlreichen Vorträgen zu Erzähltexten war die Apokalypse ein bestimmendes Sujet, wie etwa in Ruth Neubauer-Petzoldts (Erlangen-Nürnberg) Präsentation Zwischen Idylle und Apokalypse: Das neue Genre der Öko-Kriminalliteratur. Die Entstehung des Öko-Krimis allgemein wie auch seine Themen im Bezug auf die Zerstörung des Naturraumes durch den Menschen und der Kampf des Protagonisten um das Überleben des Planeten Erde standen hier im Zentrum der Korpusanalyse. Weitere Beiträge widmeten sich unter anderem dem Vergleich der Auseinandersetzung mit der Kultur-Natur-Dichotomie in den Werken einzelner Autoren, wie beispielsweise in Walter Wagners (Wien) Vortrag Ökologische Aspekte in Defoes ′Robinson Crusoe′ und Yourcenars ′Un homme obscur′.
Berbeli Wanning (Siegen) zeichnete in ihrer Präsentation Der kulturökologische Bildungsroman – Renaissance einer Gattung? literaturhistorisch einen Abriss über die Tradition des Bildungsromans und wies dabei nach, dass erst im 21. Jahrhundert ökokritische Motive im Bildungsroman stark wurden und dessen traditionelle Topoi heute zunehmend durchdringen.
Der Vortrag von Linda Simonis (Bochum) Kosmo-Poetik als Ökokritik? Transformationen des Haiku in der französischen und deutschen Gegenwartslyrik beschäftigte sich mit dem Vorbild des japanischen Naturgedichtes in der zeitgenössischen europäischen Lyrik und analysierte darin die Reflexion von Natur und das Potential der in den Gedichten enthaltenen Ökokritik.

Mit „Theorie- & Wissenschaftsgrenzen“ befassten sich zahlreiche weitere Beiträge, darunter Elke Sturm-Trigonakis (Thessaloniki) in ihrer Präsentation Texturen von Umwelt und Globalisierung, in welcher sie anhand ausgewählter Textbeispiele deren globalisierungskritische Dimension analysierte und dabei nachwies, dass Ökokritik hier nicht länger das subjektive Empfinden einer Einzelfigur widerspiegelt, sondern im Gesamtzusammenhang aller erzählten Ebenen des Textes betrachtet werden muss.
Eine weitere Facette des Panels wurde in Jana Kittelmanns (Cottbus) Beitrag Forstwirtschaft, Forstästhetik und Försterfiguren in der Literatur des 19. Jahrhunderts deutlich und zeigte, wie nah sich die Wissenschaftsdisziplinen Literatur- und Forstwissenschaft mitunter sein können. Neben dem Nachweis der historischen, ökonomischen und sozialen Bedeutung des Forstes für die Gesellschaft, wurden die Beziehungen zwischen Schriftstellern und dem Wald als Naturraum, wie auch die Beeinflussung der Ökologiediskurse des 19. Jahrhunderts durch die zahlreichen literarischen Beispiele, in denen der Wald auf vielfältige Weise dargestellt wurde, verdeutlicht.

In der Sektion „Theorie & Ökonomie“ analysierte unter anderem Eva Wiegmann-Schubert (Luxembourg) in ihrem Vortrag Ecocriticism im Kontext kapitalistischer und sozialistischer Systemkritik. Meinrad Inglins ′Urwald′ (1954) und Valentin Rasputins ′Abschied von Matjora′ (1976) die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Darstellung des Umgangs mit ökokritischen Topoi in der Literatur der Sowjetunion und der westlichen Länder Europas. Gezeigt wurde hier, wie evident und unabhängig von der jeweils vorherrschenden politischen Staatsform und der ökonomischen Propaganda in literarische Texte ökokritische Probleme Eingang fanden, indem die Folgen der Naturzerstörung für Mensch und Ökosysteme deutlich gemacht wurden.

Neben der intensiven Arbeit in den Sektionen wurden im Rahmen der Tagung die Projekte der Preisträger des Stipendienpreises „Literatur und Ökologie“ präsentiert. Gemeinsam mit der StudienStiftung Saar ist es den Organisatorinnen der Konferenz im Jahr 2013 gelungen, einen Stipendienpreis ins Leben zu rufen, um darüber den studentischen Nachwuchs zu motivieren, sich in Bachelor- und Master-/Magisterabschlussarbeiten mit ökokritischen Fragestellungen zu befassen. Die DGAVL-Jahrestagung bot hier den idealen Rahmen, die besten Konzepte einem interessierten Fachpublikum in Form einer Posterpräsentation vorzustellen. Darüber hinaus bekamen die Preisträger Solange Landau (erster Stipendienpreis Bachelor für die Arbeit „Leben nach der globalen Katastrophe. Postapokalypse als ökokritischer Experimentalraum“) und Moritz Alexander Klein (erster Stipendienpreis Master/Magister für die Arbeit „Vom Leben der Tiere: Literarische Konventionen und die Darstellung nichtmenschlicher Individualität“) die Gelegenheit, in Kurzvorträgen ihre Arbeiten zu präsentieren.
Dass neben dem Stipendienpreis und zahlreichen Lehrveranstaltungen zu ökokritischen Themen am Lehrstuhl für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Universität des Saarlandes ein breites studentisches Interesse an der Ökokritik geweckt wurde, zeigt unter anderem die im Kontext der Tagungsvorbereitung entstandene Reihe „Saarbrücker Digitale Interdisziplinäre Nachwuchsbeiträge zum Ecocriticism (SAAR.D.I.N.E.)“, die, von der Fachschaft Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft initiiert, Beiträge von Studierenden und Nachwuchswissenschaftlern nach dem Open-Source Prinzip einem breiten Publikum zugänglich machen möchte.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Tagung Literatur und Ökologie. Neue literatur- und kulturwissenschaftliche Perspektiven von einem breiten thematischen Spektrum an Untersuchungsgegenständen gekennzeichnet war, wobei zahlreiche Gattungen, literaturhistorische Perspektiven, Zeiträume und geographische Landschaften berücksichtigt wurden und soziale Hintergründe wie auch kulturelle Bezüge der analysierten künstlerischen Formen im Rahmen der Beobachtungen Eingang gefunden haben. 
Neben dieser inhaltlichen Pluralität hat auch die interdisziplinäre und internationale Ausrichtung des Kongresses fruchtbare wissenschaftliche Ergebnisse zu einem bedeutenden Schwerpunkt der aktuellen Forschung generiert, der sich zum einen aus der literaturwissenschaftlichen Beschäftigung speist und zum anderen gegenwärtig im Fokus vieler weiterer Fachdisziplinen steht.

 

Viktoria Grzondziel (Saarbrücken)

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