20.07.2022

Entscheidung des Senats der Universität über Ehrenwürden von Dr. Max Obé und Dr. h.c. Ernst Röchling

Der Senat der Universität des Saarlandes hat in seiner heutigen Sitzung entschieden, im Falle von Dr. Max Obé die Ehrenbürgerwürde der Universität posthum symbolisch-deklaratorisch abzuerkennen sowie, im Falle von Dr. h.c. Ernst Röchling, sich von der Ehrensenatorenwürde zu distanzieren. Beiden Fällen liegen jeweils zwei wissenschaftlich fundierte Gutachten von ausgewiesenen Fachleuten zugrunde, die dem Senat als Grundlage für seine Entscheidung nach intensiver Beschäftigung dienten.

 

1. Entscheidung und Stellungnahme des Senats, des Universitätspräsidenten sowie der internen Kommission:

Der Senat der Universität hat in seiner heutigen Sitzung zwei Beschlüsse zu den in den 1960er Jahren durch die Universität des Saarlandes verliehenen Ehrungen des Mediziners Dr. Max Obé (1889-1969) sowie des Industriellen Dr. h.c. Ernst Röchling (1888-1964) gefasst:

* Die 1964 vom Senat der Universität des Saarlandes verliehene Ehrenbürgerwürde an Dr. Max Obé wird symbolisch-deklaratorisch aberkannt.

* Der Senat der Universität des Saarlandes distanziert sich von der 1962 verliehenen Ehrensenatorenwürde an Dr. h.c. Ernst Röchling.

Mit dieser Entscheidung positioniert sich der Senat der Universität zu den beiden auch in der Öffentlichkeit kontrovers diskutierten universitären Ehrungen an zwei Personen, die gesellschaftlich und/oder wirtschaftlich bedeutende Rollen während der NS-Diktatur sowie nach Kriegsende im Saargebiet und später in der Bundesrepublik Deutschland gespielt haben. Der Senat hatte sich in seiner Sitzung am 21. Juli 2021 auf Initiativen der Studierenden im Senat sowie des Universitätspräsidenten dazu entschlossen, die Entscheidungen um die Ehrenwürden von Dr. h.c. Ernst Röchling und Dr. Max Obé zu verschieben, um über diese nach Vorliegen einer externen wissenschaftlichen Aufarbeitung und Begutachtung zu entscheiden.

Beiden Entscheidungen liegen ausführliche wissenschaftliche Gutachten zugrunde – zwei für jede Person –, die sowohl die Biographien der beiden Protagonisten als auch ihre Rolle im „Dritten Reich“ und in der unmittelbaren Nachkriegsgeschichte beleuchten, um so eine fundierte Entscheidungsgrundlage für den Senat der Universität zu schaffen, auf deren Basis die heutigen Entscheidungen getroffen wurden. Aufgearbeitet wurden die insgesamt vier Gutachten, die von ausgewiesenen Experten für Unternehmens- und Wirtschaftsgeschichte bzw. Medizin-Geschichte/-Ethik verfasst wurden, im Anschluss von einer Kommission, die sich aus Expertinnen und Experten der Universität des Saarlandes zusammensetzt. Die Stellungnahmen dieser Kommission flossen ebenfalls in die Entscheidungsfindung des Senates mit ein.

Der Senat findet mit seinen heutigen Entscheidungen in beiden Fällen Positionen, die in ihrem wissenschaftlichen Fundament dem eigenen Anspruch der Universität angemessen sind. Prof. Dr. Alexandra K. Kiemer als Sprecherin des Senats in dieser Angelegenheit erklärt hierzu: „Keinesfalls wollte der Senat den Eindruck erwecken, mit einem ‚Schnellschuss‘ ein moralisches Urteil über eine Person zu fällen, welches dieser möglicherweise nicht gerecht wird, in welche Richtung auch immer. Im Zuge der Aufarbeitung wurde demnach offenbar, dass es zumindest im Fall der Person Ernst Röchlings auch nicht so glasklar ist, wie es in der ursprünglichen Beschlussvorlage der studentischen Vertreter der Linken Liste – SDS & Unabhängige aus dem vergangenen Jahr angenommen wurde. Dort ist von Ernst Röchling als ‚eine Person, die sich des Kriegsverbrechens schuldig gemacht hat und als Kriegsverbrecher auch offiziell verurteilt wurde‘ die Rede. Die nun vorliegenden, fundierten wissenschaftlichen Gutachten sind sich einig darin, dass Ernst Röchling nach heutigen Maßstäben kein Kriegsverbrecher war. Dennoch spielte er als Mitglied der wirtschaftlichen Elite des ‚Dritten Reichs‘ eine gewisse gesellschaftliche Rolle, die einer kritischen Betrachtung bedarf. Daher hat sich der Senat dazu entschieden, sich im Falle von Ernst Röchling von der Ehrensenatorenwürde zu distanzieren, diese aber nicht symbolisch-deklaratorisch abzuerkennen. Damit übernimmt der Senat einerseits Verantwortung für die historisch-kritische Einordnung des Ehrensenators Ernst Röchling in der Öffentlichkeit und unterstreicht auf der anderen Seite die Rolle Ernst Röchlings, der kein überzeugter Nationalsozialist und auch, nach heutiger Lesart, kein Kriegsverbrecher war“, so Alexandra K. Kiemer.

„Anders gelagert und viel klarer zeichnet sich das Bild im Falle von Dr. Max Obé ab“, erläutert Lukas Redemann, studentisches Senatsmitglied und ebenfalls Sprecher des Senats für die heutige Entscheidung. „Max Obé kann auf Basis der ausführlichen Gutachten dezidiert eine kompromisslos linientreue Haltung gegenüber dem NS-Regime nachgewiesen werden. Er war Mitglied in zahlreichen NS-Verbänden bis hin zur NSDAP selbst und trug als ranghöchster Beamter im Gesundheitswesen der Region mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit in seinem Einflussbereich Verantwortung für die Umsetzung des grausamen und menschenverachtenden rassenbiologischen Programms der Nationalsozialisten bis hin zum Patientenmord. Er verstieß gegen zentrale Prinzipien der Ethik, ‚die sich primär dem Menschen verpflichtet sieht‘, wie ein Gutachter ihm bescheinigt, und war ‚weder zu Lebzeiten‘ ein Vorbild ‚noch ist er es heute‘, um eine weitere Formulierung eines Gutachtens aufzugreifen. Die Entscheidung, die Ehrenbürgerschaft Max Obés symbolisch-deklaratorisch abzuerkennen, wurde in diesem Fall also durch die fundierte wissenschaftliche Aufarbeitung untermauert“, so Lukas Redemann.

Beiden Senatoren ist es ein Anliegen, im Namen des Senats ebenfalls zu unterstreichen, dass mit den heutigen Entscheidungen keinesfalls rückwirkend die Senate der 1960er Jahre desavouiert werden sollen: „Wie es in den Gutachten ebenfalls unterstrichen wurde, versetzen solche öffentlichen Ehrungen von ‚NS-belasteten Personen‘ in der Nachkriegszeit heutige Beobachter durchaus ‚in Erstaunen‘. Sie waren aber in der damaligen Zeit gängige Praxis, die von den Entscheidungsträgern der damaligen Generation nicht infrage gestellt wurde. Daher ist es umso wichtiger, dass die heutigen Entscheidungsträger, in unserem Fall der Senat der Universität, sich ihrer Verantwortung stellen, die sich durch die veränderte Perspektive aus heutiger Sicht ergibt.“  

Universitätspräsident Manfred Schmitt betrachtet die Entscheidungen des Senats mit großem Respekt für dessen ausgewogene Herangehensweise, die dem höchsten Gremium einer Universität gerecht wird: „Die heutigen Senatsbeschlüsse senden ein klares Zeichen: Die Universität des Saarlandes bekennt sich zu allen Facetten ihrer Geschichte, und seien es auch solche, die schmerzhaft und unangenehm für uns sind. Trotz allem Druck, der auch öffentlich und medial in diesen beiden Fällen auf der Universität lastete, wurde der Senat, und mit ihm die Universität als Ganzes, seiner verantwortungsvollen Rolle gerecht, indem er sich nicht zu möglicherweise ungerechten Schlussfolgerungen hat hinreißen lassen. Vielmehr wurden beide Fälle ausführlich und mit größtmöglicher wissenschaftlicher Sorgfalt begutachtet, so dass der Senat der Universität auf dieser Basis eine fundierte Entscheidung treffen konnte.“

Prof. Dr. Gabriele Clemens als Vertreterin der Kommission, welche die Gutachten universitätsintern aufgearbeitet hat, erläutert: „Sowohl die ausführlichen Gutachten als auch die Arbeitsgruppe zur Aberkennung von Ehrungen der Universität des Saarlandes empfehlen die symbolisch-deklaratorische Rücknahme der Ehrenbürgerwürde für Max Obé. Ernst Röchling hingegen bewahrte stets eine kritische Distanz gegenüber dem NS-Regime und er ist nicht als Kriegsverbrecher einzustufen. Man darf ihn nicht mit seinem Großcousin Hermann Röchling gleichsetzen.“ Die Professorin für Neuere Geschichte und Landesgeschichte unterstreicht weiter, dass in näherer Zukunft eine Doktorarbeit die Rolle der Ehrenmitglieder der Universität des Saarlandes während der NS-Zeit und danach kritisch beleuchten und aufarbeiten soll.

Zum rechtlichen Unterschied zwischen einer Aberkennung einer Ehrenwürde und einer Distanzierung von einer solchen:

Rechtsgrundlage für die Verleihung und den Entzug von akademischen Ehrungen der Universität des Saarlandes ist die „Ordnung für akademische Ehrungen der Universität des Saarlandes“ vom 19.01.1977. Ehrensenatoren/-senatorinnen und Ehrenbürger/-bürgerinnen haben nach Maßgabe der Grundordnung mitgliedschaftliche Rechte und werden namentlich auf der Internetseite der Universität des Saarlandes in der Liste der zu Ehrensenatoren/-senatorinnen bzw. Ehrenbürgern/-bürgerinnen ernannten Persönlichkeiten aufgeführt. Die Rücknahme einer akademischen Ehrung erfolgt nach demselben Verfahren wie deren Verleihung (§ 10 Abs. 2 Ordnung für akademische Ehrungen). 
Bei der Rücknahme von akademischen Ehrungen Verstorbener ist zu beachten, dass mit dem Tod der geehrten Person de jure das Ehrenrecht erlischt, da es sich um ein höchstpersönliches Recht handelt; es bedarf nicht eines zusätzlichen expliziten Aufhebungsbeschlusses. Hiervon ausgenommen sind jedoch mit der Ehrung verbundene Rechte, wie im Falle der Universität die namentliche Aufführung auf der Internetseite der Universität des Saarlandes in der Liste der zu Ehrensenatoren/-senatorinnen bzw. Ehrenbürgern/bürgerinnen ernannten Persönlichkeiten. Aus politischen Gründen wird im Bereich des Kommunalrechts bei Ehrenbürgern/-bürgerinnen von Gemeinden häufig eine symbolisch-deklaratorische „Aberkennung“ durchgeführt, mit der auch noch verbliebene mit der Ehrung verbundene Rechte widerrufen werden können. Andere Kommunen treffen einen Beschluss, indem sie sich vom damaligen Beschluss distanzieren. 

2. Hintergrund zur Entscheidung im Fall der Ehrenbürgerwürde von Dr. Max Obé:

Biographisches:
Der Mediziner Dr. Max Obé (1889-1969) wurde im Mai 1964 in Würdigung seiner Verdienste um die Medizinische Fakultät, an der er seit 1950 Ärztliche Rechts- und Standeskunde gelehrt und vielen Arztgenerationen Wissen über die Ethik und die rechtlichen Grundlagen vermittelt hat zum Ehrenbürger der Universität des Saarlandes ernannt. Obé wurde nach 1935 als ranghöchster Medizinalbeamter des Saargebietes vom NS-Staat übernommen. Als höherer Medizinalbeamter unterstand Obé, seit November 1935 auch NSDAP-Parteimitglied, seitdem dem NSDAP-Gauleiter und Reichskommissar für die Saarpfalz, seit 1937 war er auch nebenamtlich für die Landesversicherungsanstalt verantwortlich. Dr. Max Obé war damit in der Region der oberste leitende Medizinalfunktionär und in dieser Funktion führend an der Umsetzung der rassen- und bevölkerungspolitischen Maßnahmen des NS-Staates beteiligt.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde Dr. Max Obé zunächst im Regierungspräsidium Saarbrücken weiterbeschäftigt und leitete das Landesversicherungsamt des Saarlandes. Im Rahmen der Entnazifizierung wurde er im Februar 1946 zunächst suspendiert, dann mit Versorgungsbezügen entlassen; Ende 1947 konnte auch er von der „Mitläuferamnestie“ profitieren: alle Sanktionen wurden aufgehoben. Dr. Max Obé wurde 1950 zum ersten Vorsitzenden der neu gegründeten Ärztekammer des Saarlandes gewählt, ein Amt, das er bis 1962 ausübte. Daneben führte er von 1950 bis 1964 einen zwei-stündigen Lehrauftrag an der Medizinischen Fakultät der Universität des Saarlandes aus und war als Ärztekammervorsitzender qua Amt stellvertretendes Mitglied des Verwaltungsrates, später des Universitätsrates in Saarbrücken.

In den beiden nun vorliegenden Gutachten über Dr. Max Obé heißt es unter anderem:

Aus seinen Ämtern heraus war er u.a. mitverantwortlich für die Umsetzung des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ (…). [Es] liegt (…) also nahe, dass Obé im mindesten Kenntnis von den verschiedenen Phasen der Euthanasie hatte. Inwieweit er konkret geplant, angebahnt oder umgesetzt hat, kann hier nicht ermittelt werden. Ihn trifft allerdings durch seine nahezu sichere Kenntnis der Vorgänge (…) eine Mitverantwortung für die Sterilisationspraxis und die Patientenmorde.

Obé hatte nicht nur hohe Verantwortung bei allen Fragen der Erbgesundheit, sondern auch höchste Entscheidungsbefugnis. Damit trägt Obé bei der Umsetzung der Zwangssterilisationen und der „Euthanasie“ hohe Verantwortung (…). Obé war […] aktiv daran beteiligt, das rassenbiologische und bevölkerungspolitische Programm der Nationalsozialisten in die Tat umzusetzen.

Obé verstieß gegen zentrale Prinzipien einer Ethik, die sich primär dem Menschen verpflichtet sieht, der krank und pflegebedürftig nach Hilfe strebt. Vielmehr treten politische Handlungsnormen in den Vordergrund, welche ideologische Prinzipien der NS-Diktatur verpflichtet sind.

Obé trägt zweifelsohne (…) Verantwortung für die Organisation, Planung und Durchführung des rassenbiologischen und bevölkerungspolitischen Programms der Nationalsozialisten (…). Damit ist er für die Zwangssterilisationen und die vollzogenen „Euthanasie“ verantwortlich, er trägt Verantwortung für die menschenverachtende NS-Politik bzw. deren Umsetzung im Gesundheitswesen (…).

Ein Vorbild war Max Obé weder zu Lebzeiten, noch ist er es heute – und ganz bestimmt nicht für die Mitglieder einer Universität.

3. Hintergrund zur Entscheidung im Fall der Ehrensenatorenwürde von Dr. h.c. Ernst Röchling:

Biographisches:
Dr. h.c. Ernst Röchling (1888-1964) absolvierte ein Ingenieurstudium. Ende der 1920er Jahre kam er nach einer beruflichen Station in Mannheim durch seinen Onkel Hermann Röchling nach Völklingen in die dortige Eisenhütte. 1930 wurde er mit der Leitung der Pariser Verkaufsgesellschaft für Röchling-Produkte in Frankreich betraut. In den Folgejahren erlangte er intensive Kenntnisse der französischen Stahlindustrie.
Mit Kriegsbeginn siedelte er in die Schweiz über und kehrte im August 1940 ins besetzte Paris zurück. In dieser Zeit soll er dem Generaldirektor einer französischen Drahtzieherei im Elsass, die Hermann Röchling treuhänderisch verwaltete, mit Haft gedroht haben, nachdem das Unternehmen die dazugehörigen Maschinen hinter die Frontlinie ins nicht deutsch besetzte Gebiet verbracht hatte. 1944/45 wurde er verhaftet und zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt, da er einem Freund, Cäsar von Hofacker, einem Mitverschwörer aus dem Kreis des Hitler-Attentats vom 20. Juli 1944, Unterschlupf gewährt hatte. Sein Onkel Hermann Röchling intervenierte bei Hitler persönlich und erreichte die Freilassung Dr. h.c. Ernst Röchlings mithilfe eines Schreibens, das die nationalsozialistische Linientreue des Neffen hervorhob. Nach dem Krieg wurde er in einem ersten Prozess im Rahmen der Rastatter Prozesse freigesprochen, in einem Berufungsverfahren, angestrengt durch die Ankläger, folgte eine Verurteilung zu fünf Jahren Haft. Dabei spielte unter anderem das Schreiben Hermann Röchlings an Hitler sowie der Vorfall um die Drahtzieherei im besetzten Elsass eine Rolle.

In den beiden Gutachten zu Dr. h.c. Ernst Röchling heißt es unter anderem:

Als ich las, dass nicht nur Hermann Röchling, sondern auch sein Neffe Ernst Röchling in einem Kriegsverbrecherprozess verurteilt worden waren, schien der Sachverhalt für mich zunächst völlig klar zu sein. (…) [Ich] erwartete (…) bei einem in Rastatt verurteilten Kriegsverbrecher in der Urteilsbegründung ausreichend Gründe zu finden, die eine Aberkennung der Ehrensenatorenwürde fast zwingend erscheinen lassen. (…) Ich musste dann aber feststellen, dass Rastatt nicht Nürnberg war und dass das um einige ausländische Richter und Ankläger erweiterte, französische Gericht nicht die gleichen Maßstäbe angelegt hatte wie die US-Militärgerichte der Nürnberger Nachfolgeprozesse (…).

Abschließend gilt es zu betonen, dass Ernst Röchling in politischer Hinsicht kein Vorwurf gemacht werden kann. Seit mehr als dreißig Jahren, in denen ich zu diesen Themen arbeite, bin ich nie auf einen Verantwortungsträger gestoßen, der in der nationalsozialistischen Wirtschaft auf seinem Posten geblieben war und – gemäß zahlreichen übereinstimmenden Zeugenaussagen – eine derart kritische Distanz gegenüber dem Regime an den Tag legte.

Alle anderen Erwähnungen bei v. Hippel (Anm.: Biograf von Hermann Röchling) zeigen Ernst Röchling lediglich im Schlepptau seines Onkels. Selbständig scheint er kaum agiert zu haben. Von den französischen Industriellen wurde er in den Zeugenbefragungen durchweg anders bewertet als sein „brutaler“ Onkel.

Tatsächlich war der Schutz seines Freundes Cäsar von Hofacker (…) vor der Verhaftung ein Akt menschlichen Anstandes, nicht mehr, aber eben auch nicht weniger und in dieser Zeit alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Fasst man diese spärlichen Informationen (…) zusammen, entsteht das Bild einer schwachen Persönlichkeit (…). Insofern war Ernst Röchling ein „Mitläufer“ reinsten Wassers, aber kein Mitläufer des Regimes, sondern seines Onkels (…).

Einschub: Im Rahmen der Rastatter Prozesse konnten die Richter auf zwei von fünf möglichen Anklagepunkten aus den Nürnberger Prozessen zurückgreifen, die auch für Dr. h.c. Ernst Röchling in Betracht kommen konnten: Plünderung privaten und öffentlichen Eigentums in besetzten Ländern und Versklavung und Deportation der Bevölkerung in besetzten Ländern und von KZ-Häftlingen. In letzterem Punkt wurde er vollständig freigesprochen. Es verblieb also noch der Punkt „Plünderung“ etc.:

Im Falle der ‚Plünderungen‘ hatte sich fast überall gezeigt, dass Ernst auf Geheiß seines Onkels handelte. Dazu heißt es in der Urteilsbegründung, dass Ernst Röchling ‚Mittäter‘ (…) gewesen sei. Lediglich im Falle der Drahtzieherei konnte ihm nach meiner (…) Bewertung ein eigenständiges übergriffiges Verhalten nachgewiesen werden. Allerdings bestritt Ernst Röchling nicht das Treffen und den Gesprächsgegenstand, wohl aber die Drohung [der Verhaftung]. Damit stand Aussage gegen Aussage.

Er war gewiss kein Held, er hat mit seinem beruflichen und familiären Umfeld nicht gebrochen, er ist nicht ins Exil gegangen, er hat sich nicht persönlich im Widerstand engagiert, wenn er auch nach dem 20. Juli einem der Verschwörer unter Lebensgefahr Unterschlupf gewährte, aber man kann davon ausgehen, dass er sich in einem schwierigen Kontext im Rahmen seiner Möglichkeiten so gut wie möglich verhalten hat. Wer wären wir, um zu urteilen, dass dies nicht genug sei, und ihm die Anerkennung zu entziehen, die er heute genießt? Ernst Röchling darf nicht mit Hermann Röchling verwechselt werden.

Ein zentrales Dokument, mit dem Ernst Röchlings aktive Mittäterschaft belegt wird, ist der Brief seines Onkels an Hitler, in dem dieser um Nachsicht für seinen Neffen bittet und ihn als ergebenen und treuen (…) Unternehmer darstellt. Was aber sollte Hermann Röchling sonst vorbringen, wenn er seinen Neffen vor der Hinrichtung bewahren wollte? (…) Ein solches Dokument ist als Beweis völlig ungeeignet.

Seine Verurteilung beruht weitgehend auf dem unfairen Gebrauch, den die französische Anklage – wiederaufgegriffen von der Berufungsinstanz – von dem Brief machte, den Hermann Röchling an Hitler geschrieben hatte, um Ernst vor einem möglichen Todesurteil zu bewahren. Ihn als treuen Diener des nationalsozialistischen Regimes erscheinen zu lassen, war damals die einzig mögliche Verteidigung.

Druckversion der Stellungnahme