Referentin: Dr. Anne Jadot (Université de Lorraine)
Gastgeber: Prof. Dr. Georg Wenzelburger (Politikwissenschaft)
Wer Wahlergebnisse verstehen will, sollte sich mit der Frage befassen, warum Menschen überhaupt wählen: Denn für eine Partei (oder einen Kandidaten) ist es von grundlegender Bedeutung, ihre Sympathisanten davon zu überzeugen, weiterhin zur Wahl zu gehen oder diejenigen zu mobilisieren, die zuvor nicht gewählt haben. Die unterschiedliche Mobilisierung, die je nach politischem Kontext einer bestimmten Wahl schwankt, hilft zudem zu erklären, warum sich die politischen Machtverhältnisse in Frankreich massiv und manchmal in kurzen Abständen verändert haben, oder sogar Ergebnisse zur Folge hatten, die zu einer sogenannten "Cohabitation" führten – also der parteipolitisch unterschiedlichen Besetzung des Präsidenten und des Regierungschefs bzw. der Regierungschefin. Die Analyse der Wahlbeteiligung kann auch Aufschluss darüber geben, warum die Wahlbeteiligung bei den vorgezogenen Parlamentswahlen im Juni/Juli 2024 so stark gestiegen ist.
Dieser Vortrag von Anne Jadot unterstreicht die Notwendigkeit, Wahlbeteiligung auf individueller Ebene in Längsschnittsuntersuchungen zu analysieren. Denn tatsächlich lassen sich die Bürgerinnen und Bürger nicht einfach in zwei Gruppen einteilen: einerseits in diejenigen, die immer wählen gehen, und andererseits in diejenigen, die niemals zur Wahl gehen. Stattdessen ist es notwendig zu fragen, warum eine bestimmte Person manchmal wählt und manchmal nicht. Dies gilt umso mehr, da eine wechselnde Wahlbeteiligung gewissermaßen zur neuen Norm geworden ist – und zwar auch unter politisch interessierten Bürgern. Der Vortrag präsentiert daher die Vielfalt der empirischen Daten, mit denen politische Partizipation gemessen sowie statistisch erklärt oder qualitativ verstanden werden kann.
Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf der Diskussion unterschiedlicher Datenquellen, um Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich mit dem Fall Frankreichs befassen, einen Überblick über die Vor- und Nachteile der jeweiligen Quellen zu geben: Hierzu gehören Informationen aus Wählerverzeichnissen, basierend auf der Arbeit einzelner Forscher oder auf einer national repräsentativen Stichprobe dank der "Partizipationsstudien" des INSEE. Diese Daten können sozioökonomische Spaltungen illustrieren und Verzerrungen durch die soziale Erwünschtheit durch die Wahrnehmung der Wahlpflicht als Bürgerpflicht vermeiden, sie lassen jedoch die Auswirkungen politischer Variablen außer Acht. Aus diesem Grund werden diese Daten mit Angaben aus geschlossenen Fragen zur Wahlbeteiligung aus großen Wahlstudien anhand weiterer Personendaten zusammengeführt. Noch aufschlussreicher ist es jedoch, diese Fülle an Informationen mit offenen Fragen zu den Gründen für die Stimmabgabe oder Stimmenthaltung zu kombinieren. Solche Aussagen, die mit Textanalyseprogrammen ausgewertet werden können, verdeutlichen strukturelle oder kontextuelle Motivationen für die Wahlbeteiligung und -enthaltung. Nicht zuletzt sind ausführliche qualitative Interviews nützlich, um den nach wie vor hohen symbolischen Wert des Wahlakts in Frankreich zu beleuchten, der zu einer gewissermaßen paradoxen Investition in absichtlich leere oder ungültige Stimmzettel führt.
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