03/29/2023

Von Rollstuhl bis Einkaufswagen: Mitdenkende Räder und Sensorgriff machen das Fahren leicht

Professor Nienhaus und Eric Peleikis aus seinem Team stehen inmitten von Golfcaddy, Einkaufswagen, Krankenstuhl und Fahrradanhänger: Für diese und weitere Fahrzeuge erforschen die Antriebstechniker ihr neues Verfahren.
© Oliver DietzeProfessor Matthias Nienhaus (r.) und Ingenieur Eric Peleikis aus seinem Team inmitten von Forschungsobjekten: Überall, wo Menschen auf Räder angewiesen sind, kann die neue Technologie der Antriebstechniker der Universität des Saarlandes die Fahrt, das Lenken oder den Transport schwerer Transportgüter erheblich erleichtern.

Leicht manövrierbare Rollstühle, Rollatoren und Krankenbetten; wendig in die Kurve gleitende Einkaufswagen oder Fahrradanhänger; Trolleys und Handkarren, die beim Ziehen und Schieben auch großer Lasten selbst unterstützen: All dies wird möglich mit der neuen Technologie, die Professor Matthias Nienhaus und sein Team von der Universität des Saarlandes (UdS) entwickeln. Ohne zusätzliche Sensoren kommt ihr System aus intelligenten Rädern und Sensorgriff aus.

Die Forscher benötigen hierfür nur die Daten, die beim Drehen in den Elektromotoren der Räder und durch Bewegung des Griffs anfallen. Ihr Verfahren zeigen sie auf der Hannover Messe vom 17. bis 21. April (Halle 002, Stand B34).

Die englische Version und Pressefotos finden Sie am Ende der Seite. /
English version and press photographs below.

Voll beladene Einkaufswagen können erstaunlich widerspenstig sein. Im Baumarkt mehrere Sack Zement zur Kasse zu chauffieren, lässt einen in Kurven wenig elegant aussehen. Die Physik der Trägheit stiehlt einem hier die Show. Schon das Anfahren stößt auf Widerstand. Ist der Wagen erst in Fahrt, will er freiwillig weder in die eine, noch die andere Richtung, geschweige denn anhalten. Auch andernorts kann der Transport auf Rädern das Leben, den Alltag oder die Arbeit schwermachen: Krankentransporte mit sperrigen Notfallliegen, Krankenbetten oder -stühlen verlangen Pflegepersonal und Rettungsdiensten einiges an Geschick und Krafteinsatz ab. Und auf wenig barrierefreien Wegen samt Steigung und Gefälle ist die Fahrt mit Rollstuhl, Rollator oder Kinderwagen mühevoll.

Eine neue Technologie, die das Forschungsteam von Professor Matthias Nienhaus an der Universität des Saarlandes entwickelt, kann überall dort, wo Menschen auf Räder angewiesen sind, die Fahrt, das Lenken und den Transport schwerer Transportgüter erheblich erleichtern. „Mit zwei Fingern lassen sich mit unserem Verfahren Lasten von 500 Kilogramm sicher bewegen und manövrieren. Wir setzen dabei auf das Zusammenspiel von intelligenten Rädern und einem Sensorgriff“, erklärt Matthias Nienhaus.

Die Räder, die der Antriebstechniker mit seinem Team entwickelt hat, wissen ohne zusätzliche Sensoren, wann sie mit wie viel Anschub die Fahrt etwa um Kurven oder bergauf unterstützen müssen. Sie beschleunigen oder bremsen, drehen langsam oder schneller je nach Bedarf – und zwar jedes Rad für sich oder im Team mit den anderen Rädern. „Wir nutzen hierzu die Elektromotoren im Inneren der Räder selbst als Sensor. Diese liefern uns sämtliche Messdaten, die wir benötigen. Das macht unser Verfahren besonders leistungsfähig und auch kostengünstig“, erläutert Matthias Nienhaus.

In mehreren Forschungsprojekten gingen die Forscherinnen und Forscher der Frage auf den Grund, wie sie aus den elektromagnetischen Antrieben möglichst viele Daten herauslesen können: zum Beispiel darüber, wie das elektromagnetische Feld an bestimmten Punkten im Motor verteilt ist, und wie es sich beim Rollen verändert. Sie sammelten zahllose solcher Messwerte, die in den Elektroantrieben der Räder ohnehin anfallen, während sie sich drehen, und ordneten sie bestimmten Motorzuständen und Radstellungen zu. Mithilfe dieser Daten können die Antriebstechniker Verschiedenstes ablesen: Die Zahlenkolonnen verraten ihnen, wie die Position der Räder sich ändert, mit welcher Kraft die Antriebe laufen oder ob die Räder auf einer Seite mehr belastet werden.

Aus der Datenmasse identifizierten sie Signalmuster, die sie typischen Abläufen zuordneten. Anhand dieser Muster und Daten können sie mithilfe mathematischer Modelle und intelligenter Algorithmen Zustände des Motors exakt beschreiben und so die Antriebe ansteuern oder überwachen, ob sie einwandfrei funktionieren. „Wir können die Räder sehr effizient ansteuern und ihre Funktion im Auge behalten“, sagt Matthias Nienhaus. Ein Verfahren, mit denen sie die Daten aus dem Motor noch aussagekräftiger machen und Störeffekte herausrechnen können, meldeten er und sein Team zum Patent an.

Über einen neu entwickelten Sensorgriff, den sie auf der Hannover Messe zeigen, schafft das Team eine Schnittstelle zum Menschen, der steuert, und so intuitiv eine gewünschte Richtung vorgeben kann: Im Sensorgriff sitzt die Schaltzentrale, der „Master“ des Systems. Der Sensorgriff kann an beliebiger Stelle an einem Elektromobil angebracht werden, also etwa am Krankenstuhl oder Einkaufswagen.

Der Griff misst Kräfte mehrdimensional in alle Richtungen. „Wir haben hierfür ein robustes und zugleich feinfühliges kapazitatives Messverfahren erforscht, entwickelt und aufgebaut“, erklärt Matthias Nienhaus. Hierdurch erkennt der Griff, wie stark und in welchem Winkel er gezogen, gedrückt, bewegt oder seitlich um die eigene Achse gedreht wird. Ein Fahrer vermittelt so ganz natürlich, welche Unterstützung er braucht. Der Griff weiß via Handerkennung auch, ob eine menschliche Hand ihn ergreift oder nicht, und kann so vorschriftsmäßig reagieren.

Anhand der Fahrinformationen, die der Mensch über den Sensorgriff intuitiv auf das zu bewegende Fahrzeug überträgt, berechnet die Elektronik, ob und wie genau die Elektromotoren welcher Räder sich einschalten müssen, mit welcher Leistung welches Rad sich in welche Richtung wie langsam oder schnell drehen muss. Verbunden über ein sogenanntes Datenbussystem arbeiten dabei mehrere Räder im Verbund zusammen. „Auf diese Weise lassen sich beliebig viele Räder einzeln oder im Team ansteuern und damit auch sehr große Lasten sicher manövrieren“, erläutert Nienhaus.

Entsprechende Befehle gibt der Griff an die Räder weiter, die nun automatisch den schiebenden Menschen dabei unterstützen, etwa den vollgepackten Einkaufswagen elegant um die Kurve gleiten zu lassen. Auch Notfallliegen oder Krankenbetten erreichen so kontrolliert und ohne unfreiwillige Kollisionen mit Wänden ihr Ziel. „Alles funktioniert wie gewohnt, nur dass unser System aus intelligenten Rädern und intuitiv bedienbarem Sensorgriff alles viel leichter von der Hand gehen lässt“, sagt Matthias Nienhaus.

Die Forschung wurde vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) sowie vom Zentralen Innovationsprogramm Mittelstand (ZIM) im Rahmen mehrerer Kooperationsprojekte gefördert.

Die Ergebnisse der anwendungsorientierten Forschung wollen die Forscher in die Industriepraxis bringen, hierzu hat Prof. Matthias Nienhaus aus seinem Lehrstuhl heraus die Firma WELLGO-Systems GmbH gegründet.


Fragen beantwortet:
Professor Dr. Matthias Nienhaus (Lehrstuhl für Antriebstechnik der Universität des Saarlandes)
Tel.: 0681 302-71681; E-Mail: info@lat.uni-saarland.de
https://www.uni-saarland.de/lehrstuhl/nienhaus.html
https://www.wellgo.de

English Version:

Hannover Messe: From wheelchairs to shopping trolleys - Intelligent wheels and a sensor handle make steering easy

Easily manoeuvrable wheelchairs, wheeled walkers and hospital beds; shopping trolleys and bicycle trailers that glide nimbly around corners; trolleys and handcarts that help you to pull and push even heavy loads: All this is possible with the new technology that Professor Matthias Nienhaus and his team at Saarland University have developed. Their system of intelligent wheels and a sensor handle requires no other sensors. The researchers merely need the data that is generated in the electric motors that drive the wheels and that generated by moving the handle. The team will be presenting their invention at the Hannover Messe from 17 to 21 April (Hall 2, Stand B34).

Fully loaded shopping trolleys can be surprisingly awkward to manoeuvre. At the DIY store, wheeling several bags of cement to the checkout can make you look less than elegant as you try to round a corner while the physics of inertia is sending you in a different direction. Even getting going requires you to overcome a certain degree of resistance. And once the trolley is in motion, it does not voluntarily want to be steered in one direction or the other, let alone stop. In other areas of daily life and work, using wheeled vehicles or aids can also be challenging. Transporting patients on cumbersome emergency stretchers, hospital beds or in wheelchairs demands considerable skill and effort from nursing and ambulance staff. And on pathways that are not geared towards accessibility, such as those with steep slopes, using a wheelchair, wheeled walker or pushchair is an arduous task.

A new technical innovation which has been developed by Professor Matthias Nienhaus’ research team at Saarland University can make it easier for people who rely on wheels to get around, steer and transport heavy goods. 'With just two fingers, our system can safely move and manoeuvre heavy loads. It is based on the interaction between intelligent wheels and a sensor handle,' explains Matthias Nienhaus.
Without using any additional sensors, the wheels developed by the drive systems specialist and his team 'know' when they need to provide assistance, for example around bends or uphill, and how much thrust is required. They will accelerate or brake, rotating more slowly or quickly as needed – with each wheel acting either independently or in synchrony with the other wheels. 'To do this, we make use of the electric motors inside the wheels as sensors. They provide us with all the measurement data we need, which makes our system particularly efficient and also cost-effective,' explains Matthias Nienhaus.

Over the course of several research projects, the researchers explored how to extract as much data as possible from the electromagnetic drives: for example, how the electromagnetic field is distributed at certain points in the motor and how it changes when the wheel is turning. They collected countless measurement values that occur in the wheels’ electric drives as they turn and assigned them to specific motor states and wheel positions. On the basis of this data, the engineers are able to see a number of things. The columns of data tell them how the position of the wheels changes, the force imparted by the drives or whether the wheels are more heavily loaded on one side than the other. From the mass of data collected, they were able to identify signal patterns that correspond with typical processes. On the basis of these patterns and data, they can use mathematical models and intelligent algorithms to precisely map different motor states, allowing them to control the drives or monitor whether they are working properly. 'We can control the wheels very efficiently and keep an eye on how they are functioning,' says Matthias Nienhaus. He and his team have filed a patent application for a process that makes the data from the motor even more meaningful and eliminates any interference effects.

The team has developed a new sensor handle that they will be showcasing at the Hannover Messe and that acts as an interface to the person steering, allowing them to intuitively indicate their desired direction. The 'master' control centre is integrated inside the sensor handle. The sensor handle can be attached anywhere on a device that has powered electric wheels, such as a wheelchair or shopping trolley.

The handle measures the forces acting in all directions. 'We have researched, developed and built a robust yet sensitive capacitive measurement system,' explains Matthias Nienhaus. It allows the handle to detect how hard and at what angle it is being pulled, pressed, moved or rotated sideways around its own axis. The person steering can thus communicate in a natural manner what assistance they need. The system also incorporates hand detection, i.e. the handle knows whether a human hand is grasping it or not, and it can thus react in line with regulations.

Based on the steering information that the person intuitively transmits via the sensor handle, the electronic system calculates whether and how the electric motors for specific wheels need to engage, the power that needs to be applied to the wheel so that it turns in the required direction at the required speed. As the wheels are connected via a data bus system, they can work together in synchrony. 'This allows any number of wheels to be controlled individually or as a unit, allowing even very large loads to be safely manoeuvred,' explains Nienhaus.

The handle transmits the commands to the wheels, which then automatically assists the person doing the pushing, for example by helping the fully loaded shopping trolley glide elegantly around the corner. Emergency stretchers and hospital beds can also reach their destinations in a controlled manner, avoiding any accidental collisions with walls. 'Everything works in the normal way, except that our system of intelligent wheels and an intuitively operated sensor handle make everything much easier,' says Matthias Nienhaus.

The research was funded by the German Federal Ministry of Education and Research (BMBF) and the Central Innovation Programme for SMEs (ZIM) within the framework of several cooperative projects.

Questions can be addressed to:
Professor Dr. Matthias Nienhaus (Actuation Technology, Saarland University)

Tel.: +49 681 302-71681; Email: nienhaus@lat.uni-saarland.de
https://www.uni-saarland.de/lehrstuhl/nienhaus.html
https://www.wellgo.de

Press photographs:

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