Wie politisch soll Kirche sein?

Die NSDAP-kritische Münchner Wochenzeitschrift „Der Gerade Weg“ positionierte sich politisch eindeutig gegen das NS-Regime und gegen Adolf Hitler. Die Arbeit der Zeitschrift wurde nach der Ermordung des Herausgebers Fritz Gerlich durch SS-Angehörige im KZ Dachau unterbunden.

Die NS-Zeit brachte einige christliche Einzelkämpfer hervor, die sich als gläubige Christen gegen das Regime stellten. Der Kirche wird immer noch vorgeworfen, nicht genügend Initiative gezeigt zu haben, was jedoch nicht dazu geführt hat, dass man sich heute in der Frage, wie politisch Kirche sein soll eindeutig positioniert.

Noch immer gibt es getrennte Lager und beide führen für sich schlagfertige Argumente an. Retrospektiv wird die Arbeit von Fritz Gerlich, Dietrich Bonhoeffer, Willi Graf, den Geschwister Scholl etc. honoriert. In Debatten um politisches Engagement der Kirche wird sich gerade von Seiten der EKD häufig auf Dietrich Bonhoeffer bezogen, der doch für politisches Handeln einzustehen vermag. Dietrich Bonhoeffer verstand diesen Widerstand aber nicht im Namen der Kirche, sondern sah sich als Individuum in der Verantwortung vor Gott. Damit beruft er sich auch auf die ‚Zwei-Regimenten-Lehre‘ Luthers, wonach die Welt in zwei Herrschaftsbereiche unterteilt ist, die beide der Macht Gottes unterliegen. Gott bedient sich jedoch zur Herrschaft beider Bereiche unterschiedlicher Mittel. Wo das Einsatzgebiet der Kirche zu verorten ist, da ist das Mittel der Herrschaft das Wort. Dem staatlichen Herrschaftsbereich ist die Gewalt zugeschrieben. Folgt man diesem Verständnis so ist eine agierende Macht ausschließlich dem Staat vorenthalten.[1]

Andererseits gilt auch, dass der Staat weltanschaulich neutral bleiben muss und unter keinen Umständen zur einzigen und totalen Ordnung des menschlichen Lebens werden darf, wie es im NS-Staat letztendlich geschah. Demnach kann man sich fragen, ob diese Umstände den Widerstand im Namen der Kirche, und nicht bloß durch Einzelkämpfer, legitimiert hätten.[2] Und wie sieht es heute aus, in einer immer stärker säkularisierten Gesellschaft? Sollten kirchliche Stimmen sich stärker einmischen oder sollten sie wieder zurückgewiesen werden? Wie weit müssen politische Debatten ausufern, dass ein Einschreiten wünschenswert oder gar notwendig wird?

Es lassen sich hier ganz unterschiedliche Tendenzen erkennen. Die Einen sagen, die Kirche begeht durch stärkere Politisierung Selbstmord, da sie sich selbst säkularisiert, die anderen sagen, sie bleibt dadurch zukunftsfähig und tut auch überhaupt nichts anderes als ihrem Auftrag zu folgen, der Verbreitung der Botschaft des Evangeliums und der Wahrheit Jesu Christi.

Man spricht in diesem Zusammenhang auch von „Öffentlicher Theologie“, eine Theologie mit dem Anliegen, „die Stimme der christlichen Tradition in den Debatten der Gegenwart zur Geltung zu bringen“. Diese Theologie ist es, die sich auf die Arbeit von Personen wie Dietrich Bonhoeffer und Fritz Gerlich beruft, aber auch auf Theologen wie Karl Barth und dessen Äußerung, man solle in der einen Hand die Bibel haben und in der anderen die Zeitung. Doch die Öffentliche Theologie, gerade die der EKD wird stark kritisiert. Zum Einen gibt es den Vorwurf, sich zu selektiv mit den politischen Themen auseinanderzusetzen, zum Anderen herrscht der Vorwurf der Klerikalisierung der EKD, in dem die Bischöfen eine größere Autorität zugeschrieben wird, aufgrund ihrer Öffentlichkeit und besseren Möglichkeit politische Stellungnahmen nach außen zu tragen. Daneben herrscht allgemein der Vorwurf, die Kirche widme sich  zu sehr Aufgaben, die außerhalb ihres Kompetenzbereichs liegen. Trotzdem wird der Kirche eines nicht abgesprochen. Es ist ihre Aufgabe, die Gesellschaft von innen heraus zu stärken und es ist auch ihre Aufgabe zur Meinungsbildung beizutragen, christliche Werte zu vermitteln und somit dem Staat zur Gewährleistung eines friedlichen Zusammenlebens der Bürger:innen zu verhelfen.[3] 

An diesem Punkt kann man nun anfangen zu streiten, darüber wie weit diese Meinungsbildung reichen darf und wie der Umgang mit politischen Statements wie z.B. der Seenotrettung der EKD aussehen soll. Reicht diese Art von Aktionismus zu weit oder sind es gerade solche Aktionen, die den Glauben an die Gemeinschaft stärken und Vertrauen schaffen in eine mutige und zukunftsfähige Kirche?

Es steht fest, dass die Kirche eine mächtige Institution ist, der immer noch eine große Bedeutung in gesellschaftlichen Diskursen zukommt. Es gibt viele Stimmen, die sich dafür aussprechen diese Reichweite zu nutzen. Sie sehen in der politischen Beteiligung der Kirche eine legitime und notwendige Ausprägung der Demokratie. Es lässt sich außerdem darüber diskutieren, ob man wie Klaus Rüdinger Mai von einem Selbstmord durch Säkularisierung sprechen kann, wo sich die Kirche doch ausschließlich da einsetzt, wo Einstellungen und Äußerungen der biblischen Botschaft entsprechen.

Der Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau sieht in der Teilhabe am politischen Diskurs ein wesentliches Merkmal von Theologie, nämlich die Verwirklichung der Wahrheit Jesu Christi. Diese dürfe nicht als „von zeitlichen Bezügen losgelöste ewige Wahrheit“[4] angesehen werden. Glauben und Handeln dürfen und können nicht getrennt voneinander betrachtet werden. Die biblische Wahrheit müsse konkret werden und dies bedeute eine aktive Mitgestaltung der Gesellschaft durch die Kirche.[5]

Aus der Politik selbst kommt ebenfalls viel Zuspruch zum politischen Engagement der Kirche. Die Kirche wird als wichtiger Partner betrachtet, bei der Arbeit das Wohl der Gesellschaft zu verbessern. Sie gilt als wichtiges gesellschaftliches Organ, das sich auch zu Wort melden müsse. Die Kirche repräsentiert eine Kultur, die christliche Kultur, die auch heute noch mit sehr positiven Werten besetzt ist, für ein friedliches Zusammenleben einsteht und sich für die Schwachen einsetzt. „Eine lautere, wesentlich mutigere Positionierung der Kirchen und Religionsgemeinschaften in unserem Land“, so wünscht es sich Christian Wulff und verweist damit auf einen stillen Protest bei den Pegida-Demonstrationen:

Als bei den Pegida-Demonstrationen die Lichter an den Kirchen ausgingen, leuchteten sie in vielen Herzen auf. Glaube, Hoffnung und Liebe statt Defätismus, Pessimismus und Hass, darin liegt die Chance der Kirchen. Aber vor allem eine große Aufgabe für alle Christen. Unbeirrt zu streiten. Mit Gewissen und Verantwortung für jeden Einzelnen und das Ganze. Mehr Kirche, mehr Christen, das geht zulasten von niemandem, wäre aber zum Nutzen aller. Wäre doch wenigstens diese Erkenntnis unumstritten.“[6] (Christian Wulff)

Die Kirche hat sich damit einen Standpunkt erarbeitet, der im Rückblick auf die Vergangenheit bedeutungsvoll scheint. Sie scheint mutiger geworden zu sein. Mut, der nicht zuletzt womöglich auch aufgrund der Vorwürfe der Zurückhaltung in der Vergangenheit entstanden ist. Die Kirche ist in politischen Debatten durchaus präsent und positioniert sich mit Einladungen hochgeschätzter Politiker wie Barack Obama bei Kirchentagen bzw. dem Ablehnen von Auftritten der AfD.

Feststeht allerdings auch, die Kirche darf keine Parteipolitik betreiben. Kirche darf politisch sein, aber Politik darf nicht religiös werden. Ob man nun in der Beteiligung der Kirche an Politik einen verzweifelten Versuch, sich selbst zu erhalten sieht oder man eine positive Sichtweise darauf hat, sollte in einem Punkt Einigkeit bestehen. Mehr Teilnehmer machen den politischen Diskurs demokratischer und sich gegen Ungerechtigkeit und für die Schwachen auszusprechen, sollte niemals verboten sein.  


[1] Vgl. Wolf Kroetke: Wie politisch darf die Kirche sein? Zur Frage des Einflusses auf politische Entscheidungen, Januar 2014, https://www.kirchenbezirk-geislingen.de/fileadmin/mediapool/bezirke/KB_Geislingen/Neujahrsempfang/2014_Neujahrsempfang/2014_Vortrag_Kroetke_Wie_politisch_darf_die_Kirche_sein.pdf [eingesehen am: 22.08.2020], S. 4/5.  

[2] Vgl. ebd.

[3] Vgl. Reinhard Bingener: NDR Sendung Glaubenssachen: „Du sollst dich einmischen“- das Manuskript zur Sendung (Download), 05.04.2020, https://www.ndr.de/ndrkultur/sendungen/glaubenssachen/glaubenssachen122_page-3.html [eingesehen am: 22.08.2020], S.3-7.

[4] Benjamin Schröter: Wie politisch darf die Kirche sein?, Evangelische Kirche in Hessen und Nassau, 24.10.2018, https://www.ekhn.de/aktuell/detailmagazin/news/wie-politisch-darf-die-kirche-sein.html [eingesehen am: 20.08.2020].

[5] Vgl. ebd.

[6] Christina Rietz, Thomas de Maizière, Christian Wulff u.a.: Wie viel Kirche ist zu viel?, erschienen in Christ & Welt (Zeit Online), 25.11.2016, https://www.zeit.de/2016/49/religion-politik-staat-kirche-einfluss [eingesehen am: 21.08.2020].