Querschnitt - Katholische Kirchenmusik des 19. und 21. Jahrhunderts

Möchte man die jeweilige Gestalt, Anschauung und inhaltliche Ausrichtung der Musica Sacra während den verschiedenen Zeitpunkten ihrer Geschichte nachvollziehen, ist es notwendig, sich das politische und gesellschaftliche Umfeld zu den jeweiligen Zeitpunkten zu vergegenwärtigen. Jede Ausgabe spiegelt schließlich die Entwicklungen, Themen und Anschauungen der jeweiligen Zeit und die Menschen, die zu dieser Zeit tätig waren, wider. Daher soll der folgende Abschnitt einen kurzen Querschnitt durch die Geschichte der katholischen Kirchenmusik in Deutschland, mit Hauptaugenmerk auf die Reformbewegung des 19. Jahrhunderts liefern.

19. Jahrhundert

„Die von der humanistischen Geistesströmung des vorigen Jahrhunderts ausgelöste allgemeine Rückbesinnung auf die Antike und auf älteres Kulturgut überhaupt erfasste schon früh die katholische Kirche, insbesondere deren Liturgie und Kirchenmusik.“ (Homepage ACV, Der ACV; Geschichte: https://www.acv-deutschland.de/der-acv/geschichte/ [eingesehen am 26.10.20]) Nachdem 1803, „im Zuge der napoleonischen Wirren“ (Johannes Schwermer: Der Cäcilianismus, in: Geschichte der katholischen Kirchenmusik, Band 2, hg. v. Karl Gustav Fellerer, Kassel, u.a. 1976, S. 226.) die deutsche Reichskirche zerbrach und eine allgemeine Säkularisierung einsetzte, wenn auch nicht in einem Ausmaß, wie etwa in Frankreich, folgten mit der Gründung der Heiligen Allianz zwischen den Monarchen Österreichs, Preußen und Russlands restaurative Bemühungen, um den Auswirkungen der Aufklärung und der französischen Revolution entgegenzuwirken. Während die Heilige Allianz zunächst, unter Berufen auf die christlichen Grundsätze der Nächstenliebe, den Frieden unter den Völkern sichern sollte, agierte sie in den Jahren der Restaurationsepoche (1815-1830) als Gegenmacht zur Revolution, sowie bürgerlichen, freiheitlichen und nationalen Bemühungen. „Seit langen angebahnt, hat auch die Restauration der Kirchenmusik etwa zu gleicher Zeit begonnen wie die politische Restauration“ (Walter Wiora: Restauration und Historismus, in: ebd., S. 219.), überdauerte diese jedoch und ragte bis in die Anfänge des 20. Jahrhunderts. Mit Aufkommen eines historischen Bewusstseins und der Musikgeschichte als Wissenschaft, trat zudem auch ein stärkeres Interesse an alter Kirchenmusik und einer historischen Aufführungspraxis in den Vordergrund. Besonders der gregorianische Choral, auf den im Gottesdienst zuvor häufig zugunsten symphonischer Werke verzichtet wurden, erfuhr in dieser Zeit eine starke Aufwertung. Aus diesen beiden Strömungen, der Restauration und dem Historismus, entwickelt sich der sogenannte Cäcilianismus, „eine kirchenmusikalische Entwicklung, die etwa um 1820 einsetzt und der ersten Generalversammlung des Allgemeinen Deutschen Cäcilienvereins (ACV) 1868 organisatorisch wirksam wird.“ (Johannes Schwermer: Der Cäcilianismus, S. 226)

 

 

Für den Cäcilianismus sollte die Erneuerung der Kirchenmusik durch die Wiederbelebung des gregorianischen Chorals, der altklassischen Polyphonie, im Stile Palestrinas, durch Neukompositionen, möglichst nahe am Palestrinastil angelehnt und durch die Gründung von Musikschulen, Lehr-Instituten und Reformchören konkretisiert werden. Besonders für die praktische, organisatorische Umsetzung war Franz Xaver Witt für die Reformbewegung sehr bedeutend. Mit der Gründung des ACV, dessen Generalpräses er wurde, war eine Institution zur Verwirklichung der vorher gereiften Ideen und Reformen geschaffen, die eine Strahlkraft, weit über die Landesgrenzen besaß und zu zahlreichen Imitationen in Holland, Belgien, Irland, Österreich, Ungarn und Nordamerika führte. „Eine ausschlaggebende Hilfe leistet die neue katholische Presse mit den kirchenmusikalischen Reformzeitschriften F.X. Witts: Fliegenden Blätter der katholischen Kirchenmusik (1866) und Musica Sacra (1868)“ (Vgl: Der Cäcilianismus, S. 228), mit denen er „den Kampf gegen die seichte Kirchenmusik eröffnet.“ (Karl Gustav Fellerer: Geschichte der katholischen Kirchenmusik, Heft 21, Düsseldorf, S. 154) In den beiden Zeitschriften, sowie dem Cäcilienvereinskatalog wurden Werksrezensionen, Noten zu alten oder neu, im Sinne der Reform, komponierten Werken, historische Entwicklungslinien, sowie Praxishinweise für Kirchenmusiker veröffentlicht. Die Erfolge der vielen Bemühungen des ACV, die unter anderem durch Witts Zeitschriften publik gemacht wurden und eine größere Öffentlichkeit erreichten, gipfelten 1903 in dem apostolischen Schreiben „Tra le sollecitudini“ Pius X.. Darin bestätigte Pius, Kirchenmusik solle in höchstem Maße am Vorbild des gregorianischen Chorals und der altklassischen Polyphonie orientiert sein. Zwar hatten die Reformen der Cäcilianern zu einer intensiven Pflege und Strukturierung der Chormusik und des Gesangsunterrichts in Deutschland und das Bestreben, nicht nur für Kathedralen und professionelle Ensembles, sondern auch für Dorfgemeinden zu komponieren, zu einer flächendeckenden Förderung kirchenmusikalischer Erziehung geführt. Gleichzeitig resultierte der sture Historismus jedoch auch zu einer Abschottung von zeitgenössischen Entwicklungen in der Musik, die zahlreichen Stilkopien alter Werke waren außerdem häufig eher quantitativer, statt qualitativer Natur.

 

20. und 21. Jahrhundert

Erst gegen Beginn des 20. Jahrhunderts wagten auch Komponisten innerhalb der cäcilianischen Bewegung, etwa Peter Griesbacher, musikalische Stilmittel wie Chromatik, starke Leitmotivik und das Lösen von Diatonalität, die außerhalb der Kirchenmusik bereits ein halbes Jahrhundert vorher zu wichtigen Gestaltungsmitteln wurden, in ihren Kompositionen anzuwenden. Gleichzeitig wuchs Anfang des 20. Jahrhunderts, spätestens aber nach dem 2. Weltkrieg der Wunsch, Liturgie in der landeseigenen Sprache auszuüben. Obwohl Pabst Pius X. den Gesang in der Muttersprache bei der Liturgiefeier noch verbietet, etabliert sich der kirchliche Volksgesang. Nicht nur noch Priestern und praktizierenden Kirchenmusikern oder Kirchenchören ist das Singen vorbehalten, vielmehr wird der „Beteiligung des Volkes an der Liturgie mittels volkssprachlichem Gesang“ (Theo Hamacher: Der kirchliche Volksgesang, in: Geschichte der katholischen Kirchenmusik, Band 2, hg. v. Karl Gustav Fellerer, Kassel, u.a. 1976, 300) immer mehr Bedeutung beigemessen. Mit den Beschlüssen des II. Vatikanischen Konzils über die Liturgie war 1963 nun auch konstitutionell die Grundlage für landessprachliche, von der gesamten Kirchengemeinde gesungene Kirchenmusik geschaffen. Die Gestalt der Kirchenmusik betreffend, lässt das Konzil alle Gestalten „wahrer Kunst“ zu, ohne diese jedoch genauer zu definieren, und öffnet sich zeitgenössischer Musik, wenngleich eine Wahrung vor dem Profanen gefordert wird. Besonders gegen Enden des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts zeigt sich eine stärkere Zuwendung der Kirchenmusik zur zeitgenössischen Popularmusik, was sich institutionell etwa in dem Schaffen eines Masterstudiengangs „Popularkirchenmusik“ und einem „Popinstitut Kirchenmusik, als Kooperationsprojekt der Heidelberger Hochschule für Kirchenmusik und der Popakademie Baden-Württemberg beobachten lässt.